Ukrainer und Russen in Deutschland vereint
11. April 2022Jeden Freitagabend ist bei Familie Mayer die Welt für eine kurze Zeit wieder in Ordnung. Zwei Stunden lang heißt es keine neuen Nachrichten über den Krieg, keine Bilder von toten Zivilisten, keine traurigen Gedanken an die Heimat. Stattdessen Mr. Bean, gemeinsamer Fernsehabend, der britische Komiker ist zum festen und wichtigen Bestandteil der Wochenendplanung geworden.
"Wenn wir zusammen Mr. Bean sehen, sind wir alle total gelöst. Er sorgt für gute Stimmung bei uns und Polinas Lachen ist so ansteckend, dass wir alle gar nicht mehr aufhören können zu lachen", sagt Natascha Mayer.
Mayer ist im Kaukasus geboren und vor mehr als 20 Jahren nach Deutschland gekommen, sie lebt heute mit ihrem Ehemann und den beiden Kindern in der Umgebung von Bonn. Die zwölfjährige Polina ist seit dem 16. März ihr Gast, zusammen mit ihrer Mutter Anna und Großmutter Larissa sind sie aus einem Vorort von Kiew über Polen nach Deutschland geflohen.
Alle haben eigentlich einen anderen Namen, aber Natascha Mayer fürchtet Repressalien für ihre russischen Angehörigen in der Heimat. Ihre Geschichte wollen sie trotzdem erzählen, denn sie handelt von der Völkerverständigung Hunderte Kilometer entfernt, in Deutschland, am Küchen- und Esstisch. So, als ob sie beweisen wollten, dass Ukrainer und Russen sehr wohl friedlich zusammenleben können - jetzt und in der Zukunft.
Keine Streitigkeiten in der ukrainisch-russischen WG
Für Natascha Mayer war kurz nach Beginn des Krieges klar, dass sie helfen muss. Die Entscheidung, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, ist für sie eine Art Protest und Möglichkeit, Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine zu zeigen. "Belarussen, Ukrainer, Russen - wir haben in unseren Kulturen extrem viel gemeinsam. Ich frage mich, wo wir uns eigentlich unterscheiden. Und jetzt, seit diesem Krieg, sollen wir auf einmal Feinde sein? Wieso?"
Familie Mayer hat deswegen das Spielzimmer der Kinder für ihre neuen Mitbewohner leer geräumt, die wollten den Neuankömmlingen sogar ihr ganzes Taschengeld spendieren, sagt Mayer mit einem Lachen. Am Briefkasten haben sie sofort die Namen der ukrainischen Flüchtlinge verewigt, sie gehen erst einmal von einem halben Jahr des Zusammenlebens aus. "Bisher klappt das super, es ist so, als ob Verwandte zu uns zu Besuch gekommen wären, wir hatten noch keinen einzigen Konfliktpunkt."
Larissa, Anna und Polina sind über Polen und Berlin ins Rheinland geflohen, haben in der Ukraine Vater und Großvater zurücklassen müssen. In der ukrainisch-russischen WG wird Russisch gesprochen, Mutter Anna hat sofort das Regiment in der Küche übernommen, sie wollen ihren Gastgebern bloß nicht zur Last fallen, auch wenn Krieg und Flucht nachwirken. Großmutter Larissa sagt: "Wir sind sehr traurig, fühlen uns aber pudelwohl hier, wir sind sehr herzlich aufgenommen worden."
Flüchtlinge wissen zwischen Menschen und Politik zu unterscheiden
Aber ist es nicht ein wenig skurril, vor den russischen Angriffen zu fliehen und jetzt ausgerechnet bei einer russischstämmigen Familie in Deutschland Unterschlupf zu finden? Was sagen ihre Verwandten in der Ukraine dazu? Anna und Larissa, so scheint es, können mit diesen Fragen herzlich wenig anfangen.
"Für uns ist das kein Problem, bei russischen Staatsangehörigen zu leben. Sehr viele Russen verlassen das Land, aus Protest und um ein Zeichen für die Ukraine zu setzen", sagen sie. "Der Mensch steht im Vordergrund und wie man miteinander umgeht. Frau Mayer kann ja nichts dafür, dass sie in Russland geboren wurde. Die Herkunft ist uns gegeben, den Menschen macht etwas anderes aus."
Natascha Mayers Mann sagt, es würde gar nicht so viel über Politik gesprochen, wie man vielleicht vermuten würde. Die Positionen seien klar, alle stünden auf der gleichen Seite - gegen den Krieg und gegen Putin. Eine Frage aber schwebe die ganze Zeit durch das Haus: Wann kommt endlich der Frieden?
Larissa, Anna und Polina, die schon ein paar Tage in einer deutschen Schule war und erste Brocken Deutsch spricht, wollen so schnell wie möglich nach Hause. Als Natascha Mayer Mutter und Großmutter für einen Integrationskurs anmelden will, sagen sie ihr: "Das brauchst Du nicht. Wozu? Wir sind ja bald zurück."
In ihren drei Wochen in Deutschland haben die ukrainischen Flüchtlinge schon gesehen und verstanden, dass die russische Community hierzulande unterschiedliche Positionen vertritt. Auf der einen Seite Personen wie Natascha Mayer, die den russischen Angriff verurteilen und ihnen uneigennützig ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen. Und andererseits eine lautstarke Minderheit, die in einem Autokorso und mit riesigen russischen Fahnen ihre Unterstützung für Russland kundtut.
Haltung zum Krieg zerreißt russische Familien und Freundschaften
Auch Mayer ist mittendrin in diesem Konflikt zwischen Putin-Gegnern und Putin-Verstehern. Sie hat seit Jahren eine WhatsApp-Gruppe aus Freundinnen, die damals alle zusammen Fremdsprachen in Russland studiert haben. Fünf sind in der Heimat geblieben, vier leben in Westeuropa. Zwei Wochen lang wird der Krieg totgeschwiegen - ehe sich Mayer als Erste traut, die Invasion scharf zu kritisieren.
"Die, die die größte Karriere von uns hingelegt hat und in Moskau lebt, ist daraufhin wutentbrannt aus der Gruppe ausgetreten. Eine andere dagegen schrieb: die Situation hier in Russland ist wie 1937 in Deutschland, eins zu eins. Eine der Frauen, die im westlichen Europa lebt, hat den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen und will nichts mehr mit ihr zu tun haben."
So kommt es zur bitteren Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die Ukrainerinnen Larissa und Anna, die vor dem Krieg geflohen sind, Natascha Mayer trösten, wenn sie an der Staatspropaganda Russlands in ihrem Freundeskreis verzweifelt. Dort wird auch den kruden Lügen eines Abgeordneten der AfD geglaubt, dass nach Kriegsbeginn auf jedes Haus eines in Deutschland lebenden Russen ein weißes Kreuz gemalt wurde. Doch am meisten wühlt sie der Kontakt zu ihrer eigenen Familie in der russischen Heimat auf.
"Dieser Krieg zerstört Familien, Freundschaften gehen daran kaputt, je nachdem, wie Deine politische Haltung ist", sagt Natascha Mayer. "Aber in dieser Situation kann man nicht irgendwo in der Mitte sein, man muss sich für eine Seite entscheiden. Meine Mutter und ich streiten immer, wenn wir über den Krieg sprechen, also versuchen wir, das Thema so gut es geht zu umschiffen. Sie wissen auch gar nicht, dass wir ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben."