1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Ukrainer zurück aus Gefangenschaft: Rache oder Vergessen?

Nikita Oshuev
19. Juni 2025

Demütigung und Folter - davon berichten viele ukrainische Soldaten, die aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehren. Die Konsequenzen, die sie aus dem Erlebten ziehen, sind sehr unterschiedlich.

Ein Mann mit der ukrainischen Flagge auf den Schultern steht auf den Knien und spricht am Handy
Ein ukrainischer Kriegsgefangener nach dem Gefangenenaustausch mit Russland im Juni 2025Bild: Wolodymyr Selenskyj via Telegram/Handout/REUTERS

Als Jurij Hultschuk nach zweieinhalb Jahren russischer Gefangenschaft zurück in der Ukraine ist, scheint er verstummt. In einem Video in den sozialen Medien ist zu sehen, wie seine Mutter ihn umarmt - und er nicht reagiert. Tage später beginnt er, von der Folter zu berichten. 

Hultschuk, 23 Jahre alt, wurde in Kyjiw geboren und wuchs dort auf. Er studierte Fremdsprachen, machte aber keinen Abschluss. Als Austauschstudent war er in Ungarn und Deutschland, reiste durch Europa und China.

Als er keine Arbeit fand, trat er im Dezember 2021 schließlich freiwillig der ukrainischen Armee bei - er brauchte Geld. So kam Hultschuk zur 36. Marinebrigade und kämpfte in Mariupol , als Russlands umfassende Invasion der Ukraine begann. Im April 2022 geriet Hultschuk in russische Gefangenschaft - sie sollte zweieinhalb Jahre dauern, unter anderem im Dorf Oleniwka, in dem von Russland besetzten Teil der ukrainischen Region Donezk.

Diese Strafkolonie wurde aufgrund der harten Haftbedingungen auch als "Konzentrationslager" bezeichnet. Im Juli 2022 kamen dort bei einer Explosion mehr als 50 ukrainische Gefangene ums Leben. Moskau und Kyjiw machten sich gegenseitig dafür verantwortlich. Später wurde Hultschuk in der russischen Region Rjasan und in der Teilrepublik Mordwinien festgehalten. Bei einem Gefangenenaustausch im September 2024 konnte er in seine Heimat zurückkehren. 

Rache nehmen oder den Peinigern vergeben?

Auch der 26-jährige Wlad Sadorin berichtet von systematischer Folter in russischer Gefangenschaft. Er verpflichtete sich 2019 bei den ukrainischen Streitkräften und diente in der 35. Marinebrigade.

Zu Beginn von Russlands Vollinvasion war er auf der ukrainischen Schlangeninsel im Schwarzen Meer stationiert. Dort wurde er von Soldaten eines russischen Marineschiffs gefangengenommen, erst fast zwei Jahre später kam er im Januar 2024 im Rahmen eines Austauschs frei.

Jurij Hultschuk mit einem im Gesicht aufgemalten traditionellen ukrainischen StickmusterBild: Privat

Trotz ähnlich geschildeter Erfahrungen haben Jurij Hultschuk und Wlad Sadorin heute ganz  unterschiedliche Einstellungen gegenüber ihren Peinigern. "Man rät mir, den vollen Namen und Wohnort des Mitarbeiters des geheimen Zentrums IK-10 in Mordwinien zu veröffentlichen", sagt Hultschuk. "Er ist dort Sanitäter, ein grausamer Kerl, der gern mit Elektroschockern hantiert. Es gibt dort Typen, die nicht davor zurückschrecken, mit Händen, Füßen, einem Rohr oder einem nassen Lappen zuzuschlagen." Als Foltermethode habe man auch Hunde aufgehetzt und Elektroschocker an die Genitalien der Gefangenen gehalten, berichtet er.

Doch Hultschuk will den Namen des Mannes, der ihn gefoltert habe, nicht preisgeben. "Für mich war das, was er getan hat, nur Teil des ganzen Bösen, das mir die Leute angetan haben. Wenn ich mich an den Russen rächen würde, die mich in der Gefangenschaft so behandelt haben, dann müsste ich mich auch an den Ukrainern rächen, die mich schlecht behandelt haben", sagt Hultschuk. Seiner Meinung nach sei es "einfacher, zu vergessen und nach vorne zu schauen".

Sadorin ist anderer Meinung. "Ich hasse die Russen zutiefst, weil sie uns so viel Schmerz und Demütigung zugefügt haben", sagt er und erzählt: "Ich wog 120 Kilogramm, als ich in Gefangenschaft geriet, und kam mit 60 Kilogramm heraus. Ich musste Mäuse, Toilettenpapier und Seife essen."

Sadorin erzählt auch von starker physischer Gewalt, dass man ihn etwa mit Flaschen auf den Kopf geschlagen habe. "Und ich soll sie lieben, als Brüder betrachten? Sie sind doch gekommen, um mich und meine Familie zu töten, ohne dass wir ihnen irgendetwas getan haben." Sadorin sagt, er habe jeden seiner Peiniger identifizieren können. "Alle an diesen Kriegsverbrechen Beteiligten werden früher oder später bestraft. Es gibt schon entsprechende Fälle", sagt er.

Hilfsgelder für ehemalige Gefangene

Sowohl Jurij Hultschuk als auch Wlad Sadorin sagen, sie hätten für die Zeit, die sie in Gefangenschaft verbrachten, großzügige Zahlungen vom Staat erhalten. Hultschuk kaufte sich davon eine Wohnung in Kyjiw. Ihm zufolge wurden während seiner gesamten Gefangenschaft Gelder auf das Konto seiner Eltern überwiesen.

Ukrainische Kriegsgefangene nach dem Gefangenenaustausch mit Russland im Juni 2025Bild: Ukrainian Presidential Press Service/AFP

Nach Angaben von Veteranen gibt es aber keine Regelung für eine lebenslange Rente wegen Gefangenschaft. Wer zurückkehrt, hat aber Anspruch auf eine Invaliditätsrente aufgrund einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die Diagnose wird praktisch bei jedem gestellt, der gefangen war. "Man hat jetzt entschieden, dass Gefangenschaft auch ein Grund für eine Invaliditätsrente sein kann", sagt Sadorin, der sich demnächst eine Erwerbsunfähigkeit bescheinigen lassen möchte.

Hultschuk erhält nichts vom Staat. "Als behindert zu gelten hat seine Schattenseiten. Es ist zum Beispiel schwierig, einen Job zu finden, aber dafür bekommt man Hilfsgelder. Ich habe diese Option für mich gar nicht in Betracht genommen, denn es ist mir wichtig, mich selbst nicht als Invaliden zu sehen. Ich sage mir, dass ich gesund bin", betont er.

Wie weiter nach der Gefangenschaft?

Sowohl Jurij Hultschuk als auch Wlad Sadorin sagen, dass sie nach ihrer Rückkehr frei darüber entscheiden konnten, ob sie wieder in Armeedienst leisten wollen oder nicht. "Die Vorgesetzten reagieren ruhig und fragen selbst, ob man kündigen will oder nicht", berichtet Sadorin, der seinen Vertrag mit den Streitkräften auflöste.

"Mir wurde die Entscheidung überlassen, ob ich weiter meinen Dienst leisten oder die Streitkräfte verlassen möchte. Ich habe mich entschieden, zu kündigen, denn ich habe genug gedient", sagt Hultschuk und betont: "Für mich war dies die einzig mögliche Option. Meines Wissens nach verlassen viele freigelassene Kriegsgefangene die Armee, nur wenige bleiben."

Seit seinem Ausscheiden aus der Armee hat Hultschuk keine feste Anstellung mehr, sondern nur Teilzeitjobs als Englischlehrer. "Ich will dieses Jahr ruhig vor mich hinleben, mich physisch und psychisch erholen. Dann möchte ich nach Deutschland gehen, dort studieren und einen Job finden", sagt er. In seiner Freizeit lernt er bereits Deutsch, nimmt zudem Gesangsunterricht und geht regelmäßig ins Fitnessstudio.

Wlad Sadorin wechselte von der Armee zur gesellschaftlichen Organisation "Break the Fake"Bild: privat

"An der Front braucht man keine unmotivierten Männer. Denn sie würden sich selbst und andere um sich herum umbringen. Das ist gefährlich", glaubt Sadorin. "Ich habe gekündigt, weil ich eine andere Art von Tätigkeit habe, meine eigene Front im Informationsbereich sozusagen", erläutert er. Nach einer Reha und Auflösung seines Vertrages mit den ukrainischen Streitkräften ließ sich der junge Mann in Odessa nieder. Heute ist er für "Break the Fake" tätig, eine Organisation, die russische Desinformation bekämpft. Sadorin tritt in den Medien auf, aber auch auf Veranstaltungen in ganz Europa, wo er von seinen Erlebnissen erzählt.

Ihm zufolge stufen die russischen Behörden gefangene Ukrainer meist nicht als Kriegsgefangene ein. Dies betrifft insbesondere Soldaten der ukrainischen Armee, die als vermisst gelten. Die von Medien veröffentlichten Zahlen über ukrainische Gefangene in Russland hält er für untertrieben. In Russland gebe es über 250 Orte, an denen sie festgehalten würden, sagt Sadorin und weist darauf hin, dass er selbst in sieben davon gewesen sei. Sie alle seien sehr unterschiedlich. "Manche haben normale Haftbedingungen, wo sie weniger geschlagen werden und vielleicht genug zu essen bekommen", sagt er und betont: "Davon hängt auch ab, ob jemand als normaler Mensch in die Gesellschaft zurückkehrt oder nicht."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen