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Politik

Ukrainische Flüchtlinge: Im Kriegsschock

25. Februar 2022

Tausende Ukrainer suchen Schutz vor dem Krieg im Nachbarland Polen. Warschau erklärt, so vielen wie möglich helfen zu wollen. Das Land hat zum ersten Mal mit einer so massiven Flüchtlingswelle zu tun.

Ukraine-Krieg | Grenzübergang Polen
Ukrainische Kriegsflüchtlinge am Grenzübergang Medyka in Südostpolen, 25.02.2022Bild: Czarek Sokolowski/AP/picture alliance

Für ukrainische Kunden auf dem Grenzmarkt im polnischen Medyka war die Nachricht von der russischen Invasion in ihrer Heimat ein Schock. Der Markt wird jeden Tag von Hunderten Ukrainern besucht, die hier alles kaufen - von Lebensmitteln über Kosmetika bis zu Haushaltsgeräten. Denn hier ist alles günstiger als zu Hause. Käufer müssen mitten in der Nacht aufbrechen, um in den frühen Morgenstunden auf dem Markt zu sein. Und gerade hier wurden sie am Donnerstag morgen (24.02.2022) von den Nachrichten über den Krieg in ihrer Heimat alarmiert.

"Ich war hier beim Einkaufen, als ich einen Anruf von zu Hause bekam. Meine Familie sagte mir, dass es einen Angriff auf ein Militärlager in der Nähe von Sambor gab, mehr nicht", sagt die 60-jährige Maria aus der ukrainischen Stadt Sambor, 30 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. "Ich weiß nicht, was demnächst passiert, ich bin ganz verwirrt", schüttelt sie den Kopf. Sie schaut sich nach einer günstigen Mitfahrgelegenheit nach Hause um, weil sie gerade an diesem Tag ihre Enkelkinder betreuen soll. An eine Flucht aus der Ukraine habe sie nie gedacht. "Wie könnte ich mein Land verlassen? Ich wüsste nicht, wie und wohin", sagt sie der DW.

"Die Stunde des Kampfes"

Ein etwa 50-jähriger Mann gibt sich gelassen und kämpferisch zugleich: "Ja, es ist Krieg. Na und? Wir haben schon so viele Kriege gehabt. Und uns immer für unsere Heimat geschlagen. Auch jetzt werden wir zeigen, dass wir keine Weichlinge sind." Er wolle in die Ukraine zurückfahren und sich dort in der Zivilverteidigung engagieren. Derzeit lebt er vom Grenzhandel und verkauft die billigeren polnischen Waren guter Qualität auf den Märkten in der Ukraine. Doch bald sei Schluss damit, sagt er, das Gebot der Stunde sei, in den Kampf zu gehen.

Gegen Mittag füllt sich der Fußweg, der von der Grenze bis zum Markt führt, überwiegend mit jüngeren Menschen mit großen Reisekoffern. Sie sind keine Stammkunden des Grenzmarktes. Sie halten sich hier nicht lange auf, sie bestellen Taxis oder fahren mit kleinen lokalen Bussen in die naheliegende Stadt Przemysl, um von dort weiter in andere Orte in Polen zu gelangen.

Krieg ändert das ganze Leben

Solomeiia Khoma aus Lemberg/Lviv ist 27 Jahre alt und arbeitet seit 3 Jahren in einer IT-Firma in Krakau, drei Stunden Autofahrt von der ukrainischen Grenze. Ihre heutige Reise war schon länger geplant, sie sei nur kurz bei der Familie in der Ukraine zu Besuch gewesen. Wann und wie sie jetzt wieder dorthin fahren werde, wisse sie nicht. Ihre Eltern würden jedenfalls zu Hause bleiben.

Ukrainische Kriegsflüchtlinge am Grenzübergang in Medyka in Südostpolen, 25.02.2022Bild: Czarek Sokolowski/AP/picture alliance

"Meine Eltern wollen nicht nach Polen oder sonst irgendwohin ins Ausland gehen. Mein Vater sagte, er würde in den Krieg ziehen, um sein Land zu verteidigen, denn die Russen haben kein Recht, in unser Haus zu kommen. Sie sind schon sowieso sehr lange bei uns, viel zu lange, seit acht Jahren, also seit der Krim-Invasion", sagt sie der DW. "Mir tut das Herz weh, wenn ich sehe, was in der Ukraine geschieht. Ich kann nicht glauben, dass es einen Krieg im Herzen Europas gibt. So kann es, so darf es nicht sein. Nicht im 21. Jahrhundert." Solomiia bricht in Tränen aus, wenn sie darüber spricht.

Hilfe für Flüchtlinge

Der 25-jährige Bogdan Ilnytskij studiert an der Fakultät für Asiatische Studien an der Universität Krakau und wird bald fertig mit seinem Studium. Jetzt denkt er nicht mehr an Karrierepläne, sondern will in Polen einen Asylantrag stellen. Seine bisherige Welt sei an einem einzigen Tag zusammengebrochen. "Plötzlich fühlte ich mich wie in einem Film über den Zweiten Weltkrieg. Meine Mutter weckt mich um halb sieben und sagt: 'Mein Sohn, steh auf, es ist Krieg.'" Er habe keine Militärschulung abgeschlossen und wolle nicht an die Front. "Solche wie wir wären nur Kanonenfutter, das will ich nicht." Er hofft, sein Land von Polen aus unterstützen zu können. Zusammen mit anderen ukrainischen Studenten in Krakau will er Hilfsaktionen für seine Landsleute organisieren.

Ukrainische Kriegsflüchtlinge auf dem Bahnhof von Przemysl in Südostpolen, 24.02.2022Bild: Attila Husejnow/Sopa/Zuma/picture alliance

Am Nachmittag tauchen am Grenzübergang von Medyka ganze Familien auf. Natalia ist mit ihren drei Kindern, alle Teenager, mit dem Auto über die Grenze gekommen. Einer der Söhne ist geistig behindert. "Ich habe Angst um ihn, vor allem um ihn. Er braucht eine ständige Rehabilitation und ein separates Zimmer", sagt sie. Sie sucht Hilfe in einem lokalen Aufnahmezentrum für Flüchtlinge, das die Gemeinde mit staatlicher Unterstützung in der hiesigen Schule eingerichtet hat. Obwohl es in der Sporthalle schon Betten für Flüchtlinge gibt, weiß hier noch keiner so richtig, wie das Zentrum funktionieren soll. Natalia findet keinen Platz dort, obwohl das Aufnahmezentrum noch leer ist. Schließlich findet sie ein Zimmer für die erste Nacht über die Organisation der ukrainischen Minderheit in der Region, die sich auf die Flüchtlinge schon seit langem vorbereitet hat.

Tagelanges Warten an der Grenze?

Den Menschen, die abends von der ukrainischen Seite nach Medyka gelangen, sieht man eine große Erschöpfung an. Drei junge in Polen lebende Ukrainer stehen direkt an der Grenze mit Wasser, Bananen und Pfannkuchen mit Marmelade, wie man sie in Polen immer am letzten Donnerstag vor Fastnacht isst. Die Ankömmlinge sagen, dass sie zehn Stunden in der Schlange vor der Grenze stehen mussten. Die Wege in Richtung Polen seien voll mit Autos, die sich kaum nach vorne bewegten. Viele würden einfach aus ihren Autos aussteigen und zu Fuß zur Grenze gehen. Am Grenzübergang würde alles langsam und bürokratisch zugehen. Tatsächlich sieht man, dass pro Stunde höchstens 50 Personen durchgelassen werden.

Der Grenzübergang Medyka in SüdostpolenBild: Monika Sieradzka/DW

"Es gibt einfach ein paar Beamte, die dort sitzen und sehr genau jedes Dokument überprüfen. Als wäre es ein normaler Tag und keine außerordentliche Situation", ärgert sich Olena. Ihre dreijährige Tochter, die sie auf dem Arm trägt, ist längst eingeschlafen. "Sie sollten die Grenze einfach aufmachen und nicht jeden so genau kontrollieren", fügt ihr Mann hinzu. Die Familie sei relativ schnell, also innerhalb von acht Stunden, über die Grenze gekommen, aber nur weil einige Menschen sie wegen des kleinen Kindes vorgelassen hätten. "Es gibt viele tausend Menschen dort, in diesem Tempo werden sie tagelang warten müssen", sagt Piotr. Die junge Familie hat eine Tante in Danzig, zu der sie jetzt fahren will.

Einreisebestimmungen gelockert

Olena und Piotr haben noch einen Einreisestempel in ihre Reisepässe bekommen, der sie zu einem 14-tägigen Aufenthalt in Polen berechtigt. Doch inzwischen verzichtet der polnische Grenzschutz auf die Kontrolle der Pässe, die die Ukrainer bisher bei der Einreise in die EU immer vorweisen mussten. Seit Freitag (25.02.2022) sind die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auch von der Quarantäne befreit und benötigen keinen aktuellen COVID-Test.

Polnische Soldaten helfen ukrainischen Kriegsflüchtlingen am Bahnhof von Przemysl, 25.02.2022Bild: Monika Sieradzka/DW

Unterdessen füllt sich der Bahnhof der Stadt Przemysl, zehn Kilometer von der Grenze entfernt, mit Hunderten Flüchtlingen, die meisten mit kleinen Kindern. Hier sind diejenigen, die keine Verwandten oder Freunde in Polen haben, bei denen sie unterkommen könnten. Die Mitarbeiter des hiesigen Aufnahmezentrums versorgen sie mit Wasser und Essen. Auch die Sporthalle der Schule in Medyka wird immer voller. Es fehlen Erfahrungen, wie man mit so vielen Flüchtlingen auf einmal umgeht. Für Polen ist diese Situation neu. Allein am ersten Tag nach der Invasion der Ukraine kamen 30.000 Kriegsflüchtlinge. Die Regierung rechnet nun mit bis zu einer Million Schutzsuchenden aus der Ukraine.