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PolitikUkraine

Ukrainische Geiseln in russischer Hand

5. März 2024

Die Hilfsorganisation "Media Initiative for Human Rights" macht in Brüssel auf das Schicksal ukrainischer Geiseln aufmerksam - verschleppt in russisch beherrschte Gebiete. Werden sie überleben? Bernd Riegert berichtet.

Brüssel Anhörung Europa Parlament zu Russland | Postkarten-Aktion
Verschleppte Ukrainer: Mit diesen Postkarten erinnert die "Media Initiative for Human Rights" an ihr SchicksalBild: Bernd Riegert/DW

Mykyta Horbans Stimme stockt. "Geben Sie mir einen Moment", stößt er hervor und macht eine lange Pause. "Entschuldigung, es ist immer noch schwer." Er erzählt von seinem Schicksal als Gefangener in den Händen russischer Behörden. Sein Blick ist leer, schweift an die Decke und auf den Boden eines Sitzungssaals im Europäischen Parlament in Brüssel. Der litauische Europaabgeordnete Petras Austrevicius hat ihn und andere Opfer des russischen Überfalls auf die Ukraine nach Belgien eingeladen.

"Vor zwei Jahren kamen die Russen in unser Dorf in der Ukraine, nahmen mich und meinen Vater als Geiseln, verhörten uns, folterten uns. Sie haben meine Finger mit einem Schraubenzieher gebrochen," berichtet Mykyta Horban. Er wurde mit seinem Vater nach Russland in die Region Kursk verschleppt. Warum die Russen die beiden festnahmen, kann sich Mykyta Horban bis heute nicht erklären. Es wurde nie eine Anklage erhoben. 

Mykytas Horbans Beine wurden während der Verschleppung verletzt. Er konnte kaum gehen. In Kursk musste er bei Frost ohne Schuhe im Freien übernachten. Erfrorene Zehen wurden schließlich in einem Gefängnis amputiert. "Wegen der Verletzung haben sich mich gehen lassen." Mykyta Horban wurde Teil eines Gefangenenaustausches mit russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine. Er konnte nach sechs Wochen Verschleppung in sein Dorf zurückkehren. Und sein Vater? "Wir wissen bis heute nicht, wo er ist," sagt Mykyta Horban leise auf eine entsprechende Frage. "Und was jetzt?", fragt er.

Nach Folter freigekommen, aber immer noch traumatisiert: Mykyta HorbanBild: Bernd Riegert/DW

Mindestens 1500 Verschleppte

Auf diese Frage versucht Olha Reshetylova eine Antwort zu geben. Sie setzt sich mit ihrer Organisation "Media Initiative for Human Rights" ehrenamtlich für die von Russland verschleppten Zivilisten aus der Ukraine ein. Sie nennt die rund 1500 Menschen, deren Schicksal sie nachverfolgen konnte, "zivile Geiseln". Zu vielen von ihnen bestehe keinerlei Kontakt, so Olha Reshetylova.

Über manche erfahre sie über die Aussagen von freigekommenen Mitgefangenen. Diese Menschen werden willkürlich verhaftet, eingesperrt, ohne Anklage, ohne Verfahren. Die meisten werden in den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine festgehalten. Andere werden in Lager nach Russland gebracht. Olha Reshetylova vermutet, dass die Dunkelziffer bei diesen zivilen Geiseln hoch ist. Von vielen würde niemand je etwas erfahren.

Olha Reshetylova: "Deine Lieben 'berühmt' zu machen, erhöht ihre Chancen frei zu kommen"Bild: Bernd Riegert/DW

"Das sind Geiseln"

Der Europaabgeordnete Petras Austrevicius aus Litauen, der Olha Reshetylova und ihre Hilfsorganisation unterstützt, will mit Veranstaltungen in Brüssel und Besuchen vor Ort auf das Schicksal der verschleppten Menschen aufmerksam machen. "Es gibt diese Menschen. Man sollte nicht wegschauen bei diesen zivilen Geiseln, die von den russischen Besatzern genommen werden. Wir müssen für sie eintreten und dieses Thema bei jeglichem Treffen zur Sprache bringen, an dem russische Vertreter teilnehmen", sagte der Abgeordnete der DW in Brüssel. "Die Situation erinnert mich an die Geiseln, die die Hamas in Israel entführt hat", meint Petras Austrevicius. Die Russen hätten damit schon 2014 nach der Annexion der Krim-Halbinsel begonnen, die zur Ukraine gehört. "Das ist ein unerträglicher Schmerz für die Familien."

Bangen um den Ehemann

"Wir konnten uns nicht verabschieden", erzählt Olha Babych, die Ehefrau von Oleksandr Babych. Der Bürgermeister von Gola Prystan in der Region Cherson wurde vor zwei Jahren von russischen Soldaten im Rathaus verhaftet, einige Tage dort festgehalten und gefoltert. Auf Toilettenpapier kritzelte Oleksandr Babych seine letzte Botschaft an seine Frau: "Ich liebe dich. Ich weiß nicht, was geschehen wird." Seither habe sie nicht mehr mit ihm gesprochen und keinen Kontakt per Brief oder Chat gehabt.

Olha Babych (re.) berichtet in Tränen von ihrem verschleppten Mann. Der Abgeordnete Petras Austrevicius ist erschüttert. Bild: Bernd Riegert/DW

Im Sommer 2022 gab es ein Lebenszeichen. Olha Babych erfuhr über Umwege, dass ihr Mann auf der Krim in einem Untersuchungsgefängnis gefangen gehalten wird. Seither ist aber keine Anklage erhoben worden, kein Anwalt konnte den Bürgermeister von Gola Prystan sehen. Er wird in Isolation gehalten. Ihr Mann habe im ersten Monat des Krieges Widerstand gegen die russischen Besatzer in seiner Stadt organisiert. Deshalb wollten sie ihn zum Schweigen bringen. Von der EU erhofft sich Olha Babych Unterstützung, etwa bei Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch. Deshalb geht sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit und bringt sich eventuell selbst in Gefahr, weil russische Sicherheitskräfte sie oder ihre Familie ins Visier nehmen könnten. "Man kann nicht nur einfach zuschauen", sagt Olha Babych. Sie meint damit auch die Menschen in der EU.

Hilfsorganisation: EU sollte mehr Druck machen

Die Hilfsorganisation "Media Initiative for Human Rights" setzt sich für die Schaffung einer internationalen Vermittlungsmission der Vereinten Nationen ein, um die Befreiung der zivilen Geiseln zu erreichen. "Wir hoffen, dass die EU mehr persönliche Sanktionen gegen diejenigen verhängt, die diese Verbrechen verüben, zum Beispiel die Direktoren der Gefängnisse, wo die Menschen festgehalten werden. Der erste Schritt ist es, Aufmerksamkeit zu schaffen", sagt Olha Reshetylova, die Sprecherin der Hilfsorganisation. "Es geht hier nicht um bloße Umsiedlung, sondern um willkürliche Haft, Folter und Tod in Gefangenschaft." Der Europaabgeordnete Petras Austrevicius sichert den Betroffenen und ihren Familien zu, sich für ihre Belange einzusetzen.

Ukraine: Das Schicksal der verschleppten Kinder

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Öffentlichkeit herzustellen, kann Erfolg bringen, meint die Aktivistin Olha Reshetylova. Sie war beim Außenministertreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im November in Skopje. Dort war auch der russische Außenminister Sergej Lawrow. Er musste sich scharfe Kritik am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine anhören. Einige Tage später kamen einige Gefangene frei, für die sich ihre Gruppe am Rande der OSZE-Tagung eingesetzt hatte, so Olha Reshetylova. Welchen Zusammenhang es das gab, weiß sie natürlich nicht, aber immerhin habe die russische Seite reagiert. "Deine Lieben 'berühmt' zu machen, erhöht ihre Chancen frei zu kommen", ist ihre Schlussfolgerung.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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