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Politik

Senzow: "Kampf zweier Weltanschauungen"

Vladimir Esipov lh
9. Oktober 2019

Über fünf Jahre saß der Filmemacher Oleg Senzow in russischer Haft. Jetzt ist er wieder frei und hat mit der DW über seine Haft, über Folter und über seinen Traum gesprochen, Putin vor Gericht zu sehen.

Oleg Sentsov ukrainischer Regisseur
Bild: DW/V. Esipov

Die russischen Behörden haben den ukrainischen Filmregisseur Oleg Senzow fünfeinhalb Jahre nach seiner Festnahme auf der Krim Anfang September freigelassen. Seine Freilassung fand im Rahmen eines langerwarteten Gefangenenaustauschs statt. Die DW hat den ukrainischen Filmemacher, der wegen Terrorvorwürfen verurteilt worden war, kürzlich in Berlin getroffen. 

DW: Erzählen Sie uns, was in der Zeit vor Ihrer Festnahme auf der Krim im Jahr 2014 passiert ist.

Oleg Senzow: Ich war gegen Russland, gegen die Annexion der Krim. Und ich habe einiges getan, was manchen Leuten nicht gefallen haben mag. [Auf der Krim - Anm. d. Red.] Es gab eine Gruppe von Brandstiftern, die ein Parteibüro [der Kreml-nahen Partei "Einiges Russland"] in Brand gesteckt haben. Einer der Brandstifter - ein Mann namens Chirniy - dachte sich, dass das nicht genug sei. Er wollte etwas Größeres anzetteln. Er war der Meinung, die Gruppe bräuchte eine Bombe, um etwas in die Luft zu jagen. Aber man muss auch sagen, er war geistig nicht ganz auf der Höhe. Einer seiner Bekannten hat ihn beim FSB gemeldet, als er von dem Plan erfahren hat.

Der Inlandsgeheimdienst hat erst einmal nichts unternommen - zwei oder drei Wochen lang. Sie lasen Berichte, versuchten sich ein Bild des Falls zu machen. Und dann gab es einen Befehl. Es sollte eine terroristische Organisation vor der ukrainischen Präsidentschaftswahl dingfest gemacht werden, um zu zeigen, dass die Ukraine einen Terrorkrieg und Sabotageakte auf der Krim plane. Da hat sich der FSB an Chirniys Aussage erinnert und ihn einbestellt. Sie folterten ihn und er hat ihnen sofort gesagt, was er wusste - und auch, was er nicht wusste. Danach haben sie einen anderen Mann, Afanasyev, festgenommen. Auch ihn haben sie gefoltert. Sie fragten ihn: 'Wer trägt hier die Verantwortung?' Ihm fiel kein größerer Chef ein als ich.

 Wie kam es überhaupt zu Ihrer Beteiligung?

Anfang September konnte Senzow nach Kiew zurückkehrenBild: Reuters/G. Garanich

Ich stand in Kontakt mit allen pro-Ukrainischen Aktivisten auf der Krim. Alle wussten über deren Aktivitäten Bescheid: Sie haben ein Fenster zerbrochen, einen Molotow-Cocktail geworfen, etwas Linoleum und die Fensterbank sind abgebrannt. Es war Vandalismus, aber das FSB hat daraus einen terroristischen Angriff auf die Partei "Einiges Russland" gemacht.

Dass sie uns die Schuld geben würden, war schon vorher klar. Als sie mich festnahmen, verhörten und folterten, fanden sie nichts - und haben mich dennoch nicht freigelassen. Sie sagten zu mir: 'Wir lassen niemanden frei, auch du kommst garantiert ins Gefängnis. Du kannst es dir leichter machen und Namen nennen. Nenne wen auch immer aus der ukrainischen Führung. Dann bekommst du sieben Jahre. Wenn du dich weigerst, machen wir dich zum Kopf des Ganzen und du kriegst 20 Jahre.' Ich habe mich geweigert. Sie erklärten mich zum Drahtzieher. Ich bekam 20 Jahre.

Sie wurden gefoltert?

Sie verhörten mich abends, in der Nacht. Mitarbeiter des FSB haben mich geschlagen, mit einem Beutel gewürgt, mir mit Schlagstöcken auf die Fersen geschlagen. Sie haben mich ausgezogen und mir angedroht, mich zu vergewaltigen. Das mag jetzt schockierend klingen, aber so sieht ein normales Verhör aus, das ist nicht ungewöhnlich. Ich habe viel gesehen und gehört in meiner Zeit in verschiedenen Gefängnissen. Ich wusste, dass das noch die sanftere Behandlung war.

Lesen Sie dazu: 5 Jahre Haft: Anwältin von Regisseur Oleg Senzow berichtet von Haftbedingungen

Als Sie sich zu einem Pro-ukrainischen Aktivisten auf der Krim erklärten, gehörten sie zu einer Minderheit. Warum haben sich die meisten Menschen auf der Krim für einen anderen Weg entschieden?

Der Großteil der Bevölkerung auf der Krim spricht ohnehin Russisch. In den 20 Jahren seit der Unabhängigkeit der Ukraine gibt es den Versuch, die Krim zu 'ukrainisieren'. Das Vorhaben wurde schlecht ausgeführt und hat die Leute eher abgeschreckt. Dazu kommt, dass Russland ganz allmählich seine sogenannte "soft power" ausgebaut hat. Es wurden beispielsweise Kulturveranstaltungen organisiert. Alles im Stillen, um unbemerkt die Beziehungen zu intensivieren.

 Das Ganze begann auch nicht mit der Besetzung der Regierungsgebäude durch russische Spezialeinheiten am 27. Februar 2014. Es begann mit den Maidan-Protesten. Ich war die gesamten drei Monate vor Ort, ab und zu bin ich aber nach Hause auf die Krim gefahren, um meine Familie für ein paar Tage zu sehen. Und dort habe ich die Plakate gesehen, die TV-Werbungen. Sie hatten alle einen Anti-Maidan-Tenor: 'Die Faschisten aus Kiew wollen uns belagern.' Lokale, russische Medien haben die Menschen angestachelt, ihnen erzählt, was in Kiew passiere, sei fürchterlich und faschistisch. Nazi-Kollaborateure würden die Macht übernehmen. Das war nicht einmal im Ansatz wahr, aber die Menschen haben es geglaubt.

All das ist fünf Jahr her. Seitdem hat Präsident Petro Poroschenko die letzte Wahl verloren und die Ukraine hat mit Wolodymyr Selenskyj einen neuen Präsidenten. Ist das ein Erfolg des Maidans?

Wir auf dem Maidan wollten vor allem [den ehemaligen Präsidenten Viktor] Janukowitsch absetzen und das haben wir geschafft. Unsere anderen Forderungen wurden nicht erfüllt, zumindest nicht vollständig. Wir wollten faire Wahlen. Dieses Ziel haben wir beinahe erreicht. Die unterlegenen Parteien und unabhängige Beobachter haben die vergangene Wahl als fair eingestuft. Unregelmäßigkeiten sind zwar aufgetreten, aber sie waren nicht entscheidend für das Wahlergebnis. Das ist ein Erfolg - auch, weil es das bisher in der Ukraine und in Russland nicht gegeben hat. Wir haben auch eine faire Polizei und faire Gerichte gefordert. Bei der Polizei gab es einige Reformen, aber eher kleinerer Natur. Wir können auch noch immer nicht davon sprechen, dass unsere Gerichte gerecht sind. Es ist besser als zuvor, aber noch nicht so gut, wie wir das gerne hätten.

Sie haben einmal öffentlich gesagt, sie würden gerne sehen, wie sich Wladimir Putin vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verteidigt. Haben Sie das wirklich so gemeint oder haben Sie das im Eifer des Gefechts gesagt?

Ich lasse mich nie von meinen Emotionen leiten, schon gar nicht, wenn ich öffentlich spreche. Es ist ein kleiner Traum von mir, denn es wäre richtig, dass er für die Verbrechen gegen die Ukraine, Russland selbst, Moldawien, Georgien, an europäischen Bürgern bestraft wird. Jemand muss für den Boeing-Abschuss [der Abschuss des Malaysia-Airlines-Flug 370 über der Ostukraine am 17. Juli 2014 - Anm. d. Red.] die Verantwortung tragen, das ist eindeutig. Putin hat den Abschuss nicht unmittelbar angeordnet, aber er war eine Folge seines Systems. Dasselbe gilt für die 13.000 Toten des Krieges in Donezk und Luhansk. Ich will, dass er dazu in Den Haag aussagt.

Über fünf Jahre war Senzow in russischer HaftBild: picture-alliance/AP

Wie konnte es dazu kommen, dass sich zwei Länder, die sich so nahe sind, wie Russland und die Ukraine, in diese Situation geraten?

Man muss verstehen, dass dieser Konflikt nicht zwischen zwei Ländern und Völkern stattfindet. Es ist der Kampf zweier Weltanschauungen. Progressive Ukrainer wollen so leben wie Europäer, mit europäischen Standards, in einem freien und zivilisierten Land. Sie sind gegen die sogenannte russische Weltsicht, das russische Regime, das Putin-Regime - das alles wird vertreten von Menschen, die leben wollen wie zu Sowjetzeiten. Aber man kann nicht in die Zeiten der Sowjetunion zurückkehren, diese Zeit ist tot. Dieses Wertesystem ist zum Scheitern verurteilt. Ich habe fünfeinhalb Jahre in Russland gelebt. Ich kenne das Land besser als Europa oder die Ukraine und ich weiß genau, was dort passiert.

Und was passiert dort?

Die russische Führung und mit ihr viele Menschen wollen zurück in die Zeiten der Sowjetunion. Solche Bestrebungen findet man sogar bei einfachen Menschen, die nichts haben. Sie sind auf dem Weg in die Obdachlosigkeit, aber sie freuen sich über die [Annexion der] Krim, sie stellen sich gern gegen die USA. Ihr Leben verbessert sich in keiner Weise, aber sie sagen Sätze wie 'Jetzt haben wir es den Amerikanern und den Europäern richtig gezeigt'‘. Oder: 'Wir machen die Ukrainer in Donezk und Luhansk kalt.' Das ist furchtbar, denn das wirkliche Problem des heutigen Russland ist nicht das politische System, das den Normen nicht entspricht oder die wirtschaftliche Entwicklung, die ins Stocken geraten ist. Es geht um den stark fortgeschrittenen Verfall der Gesellschaft.

Ich weiß nicht, was sie dagegen unternehmen werden - aber diese ausweglose gesellschaftliche Entwicklung ist beängstigend. Ein politisches System kann sich in kurzer Zeit verändern. Ich erinnere mich, dass die Sowjetunion innerhalb von drei Tagen in sich zusammen gefallen ist. Das Janukowitsch-Regime brach innerhalb von drei Monaten zusammen. Auch das Putin-Regime wird früher oder später enden, aber es wird sehr viel schwieriger sein, das Bewusstsein der Menschen zu verändern.

Das Interview wurde redaktionell bearbeitet und verdichtet.

Das Interview führte Vladimir Esipov. 

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