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Literatur

Umbrüche und ihre Bedeutung für die Gegenwart

Sabine Peschel
16. November 2019

Ingo Schulze, Frank Witzel und Dževad Karahasan tasten sich beim Literaturfest München an Antworten auf ihre "Fragen an die Welt nach 1989" heran. Ins Blickfeld gerät das 20. Jahrhundert - mit vielen neuen Bezügen.

Deutschland Literaturfest München 2019 | Frank Witzel, Ingo Schulze und Dzevad Karahasan
Bild: Elisabeth Greil

Was war das eigentlich 1989? Die große, einschneidende Wende, die das Ende des Ostblock-Kommunismus bewirkte und damit die ganze Welt veränderte? Oder ist das eine sehr deutsche Wahrnehmung, waren die Veränderungen vor allem im westlichen Teil Deutschlands und möglicherweise Europas gar nicht so bedeutend, gab es vielleicht andere Daten, die für Europa und den Rest der Welt wesentlichere Auswirkungen hatten? Sollte man den Zukunft prägenden Umbruch zeitlich und vielleicht auch räumlich ganz anders verorten?

Der in der DDR sozialisierte Schriftsteller Ingo Schulze stellt diese Fragen nach der Bewertung und den Folgen von '89, die auch in den Tagen der Feierlichkeiten zum 30. Jubiläum des Mauerfalls diskutiert wurden, noch einmal neu - und anders. Für das Autoren-Forum des Münchner Literaturfests hat er als Kurator ein Programm unter dem poetisch-ironischen Titel "Einübungen ins Paradies" zusammengestellt und Autorinnen und Intellektuelle aus aller Welt eingeladen, "Fragen an die Welt nach 1989" zu beantworten.

Der vielfach ausgezeichnete bosnische Autor Dževad Karahasan und der Träger des Deutschen Buchpreises von 2015, Frank Witzel, waren die Ersten, die sich im Rahmen des Autoren-Forums Gedanken über die Umbrüche des 20. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart machten.

Frank Witzel gewann 2015 mit dem Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" den Deutschen BuchpreisBild: picture alliance/Wolfgang Minich

Rituale markieren den Wandel der Zeiten

Frank Witzel öffnet den Blick auf den Wandel der Zeiten, indem er sich der Rituale entsinnt, die das Wirken in ihrer Zeit bedeutsamer Menschen beschlossen. Er erinnert an die Beerdigung des russischen Staatsführers Leonid Breschnew 1982, den im Fernsehen immer wieder wiederholten Kuss, den dessen Witwe dem Verstorbenen vor laufenden Kameras gab, an den Leichnam Lenins, für dessen Besichtigung man heute nicht mehr zweieinhalb Stunden anstehen müsse, an den faschistischen General Franco, dessen Gebeine vor kurzem in Spanien umgebettet wurden, und an die 1952 verstorbene argentinische "Presedenta" Evita Perón, deren sterbliche Überreste fast ein Jahr lang einbalsamiert, ehe sie in einem Glassarg aufgebahrt wurden.

Vor allem aber ruft Witzel Bilder der Beerdigungsfeierlichkeiten für den ersten bundesrepublikanischen Kanzler Konrad Adenauer wach, Eindrücke aus seiner Jugend. "Insgesamt hatte die viertägige Feier ein mythisch-nibbelungenhaftes Ausmaß mit Menschenmassen, die den Rhein säumten, so als würde die Bundesrepublik in diesem April 1967 ihre letzte Chance ergreifen, um noch einmal eines Staates zu gedenken, der durch die gezielte Ermordung Benno Ohnesorgs durch einen Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit keine zwei Monate später nicht mehr derselbe sein würde."

Trauerzug für Konrad Adenauer vor dem Kölner DomBild: picture alliance/R. Witschel

Antrag für gemeinsames Geschichtsbewusstsein in Europa

Was ein solcher punktueller Rückblick mit der historischen Bewertung von 1989 und der Zeit danach zu tun haben könnte, wurde deutlicher, als Witzel mit dem Beispiel einer Umfrage konkret wurde. Direkt nach dem Krieg hielten 57 Prozent der befragten Franzosen die Sowjetunion für die Niederschlagung der Nationalsozialisten für verantwortlich, nur 20 Prozent die USA. 1994, fünf Jahre nach der "Wende", hatten sich die Werte umgekehrt, 25 hielten die SU für hauptverantwortlich, 49 Prozent die Amerikaner.

25 Jahre später, berichtet der Autor, am 19. September 2019, verabschiedete das EU-Parlament einen Gemeinsamen Entschließungsantrag, der die Gleichsetzung des Kommunismus mit dem Nationalsozialismus feststellte. Der Antrag, dem alle deutschen Parteien außer der Linken zustimmten, trägt den Titel. "Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas".

Die Ambivalenz des historischen Geschehens

"Ein ganz erstaunlicher und medial ebenso erstaunlich wenig beachteter Vorgang", kommentiert der Autor. "Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit. Im schlimmsten Fall ist es Faschismus." Warum, fragt Witzel weiter, sah sich das EU-Parlament ausgerechnet jetzt, 30 Jahre nach dem Mauerfall, genötigt, diese Gleichsetzung für die Zukunft Europas ziehen zu müssen?

Frank Witzel geht es um die Ambivalenz des historischen Geschehens. "Die Geschichte, gerade die von 1989, bleibt nicht stehen, und das Gedenken an das, was für viele Befreiung war, beginnt sich 30 Jahre danach zu verändern, nicht selten in eine Form der Unfreiheit hinein, die sich gegen das wendet, was einem die Freiheit überhaupt erst ermöglichte, aus der heraus man jetzt agiert."

Dževad Karahasan beim 10. Literaturfest München Bild: Elisabeth Greil

Wann begann die neue Zeit?

Auch der in Graz und Sarajevo lebende Dževad Karahasan beschränkt seine Sicht nicht auf 1989. Im Gegenteil: Er blickt auf das gesamte 20. Jahrhundert, das für ihn 1914 mit dem Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger in Sarajevo begann und 1992 mit der Belagerung Sarajevos endete. "Die schöne, sichere Welt des 19. Jahrhunderts hörte 1914 auf zu existieren. Der Individualismus, von dem das 20. Jahrhundert geprägt war, endet mit dem Zerfall des Staates 1992 in Sarajevo."

Mit dem Beginn einer neuen Zeit im Herbst 1989 ist der Erzähler, Dramatiker und Essayist nicht einverstanden. Für ihn ist das Jahr 1979 mit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan als Wendepunkt bedeutsamer, vor allem aber kommt es ihm darauf an, auf die vielen Verbindungspunkte in einer langen und verzweigten Geschichte hinzuweisen. Hat die neue Zeit denn nicht vielleicht schon in den 60er Jahren mit dem Beginn des Massentourismus eingesetzt? Denn "in der Welt des Tourismus ist niemand zuhause" - ein Gedanke mit dem Karahasan die Brücke zu den Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart schlägt.

Ingo Schulze, Kurator des Literaturfests München Bild: Catherina Hess

Ein Gespräch mit zwei "politischen Metaphysikern"

Ingo Schulze tituliert seine beiden Gesprächspartner als "politische Metaphysiker" und trifft damit den Grundton der Diskussion. Auch als er versucht, die ökonomischen Dimensionen der deutschen Wiedervereinigung und die "Rückkehr in den Kapitalismus" ins Gespräch zu bringen, antwortet Karahasan philosophisch: "Es kann nicht stimmen, dass eine reine Abstraktion wie das Geld das einzig Wichtige sein soll, und alles, was die Menschen leisten, absurd unwichtig."

Es sind keine ökonomischen oder historischen fakten- oder datenbasierten Interpolationen, die die drei Schriftsteller ihren Zuhörern beim Literaturfest München mitgeben, sondern kostbare und nachhaltige Denkanstöße.

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