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Umdenken nach dem Ukraine-Schock

Volker Witting14. Mai 2015

Für die Balten waren die russische Annexion der Krim und der Ukraine-Krieg ein Schock. Nun ziehen sie Konsequenzen: TV-Programme für die russischsprachigen Minderheiten und eine engere Zusammenarbeit innerhalb der NATO.

In den Parks von Lettlands Hauptstadt Riga genießen die Menschen den Frühling (Foto: DW)
Bild: DW/V. Witting

Die ganz große Angst ist weg. In den Parks von Lettlands Hauptstadt Riga genießen die Menschen die ersten warmen Sonnenstrahlen (Artikelbild). "Eine russische Invasion befürchte ich nicht mehr, aber ein ungutes Gefühl bleibt", sagt die Studentin Signe Irbe. Nach der Annexion der Krim war diese Angst riesengroß.

Parallelen zwischen Baltikum und Ukraine liegen nahe: Wie in der Ukraine leben auch in den baltischen Staaten viele Menschen mit russischen Wurzeln, die teils mit nostalgischen Gefühlen die Zeiten des Sowjetkommunismus verherrlichen. Und dann die ständigen Nadelstiche Moskaus seit Beginn der Ukraine-Krise: Immer wieder dringen russische Militärjets in den baltischen Luftraum ein. Ferner dröhnt auf allen russischen TV-Kanälen, die auch im Baltikum empfangen werden können, Propaganda gegen die ukrainische Regierung, die NATO und die ganze "West-Dekadenz".

Medienkrieg mit Russland

Freiheitsdenkmal in der lettischen Hauptstadt RigaBild: DW/V. Witting

Lettische Außenpolitiker sprechen inzwischen offen von einem Medienkrieg. Sie warnen, die russischen Programme wirkten sich negativ auf die Gesellschaft aus. In der russischsprachigen Bevölkerung lösten sie heftige Debatten, Angst und Unsicherheit aus. Wenn im russischen Fernsehen über Lettland berichtet werde, dann meist negativ.

Es droht zumindest eine mediale Parallelgesellschaft, denn in Lettland sind rund 35 Prozent der Bevölkerung russischsprachig, in Estland 27 und in Litauen sechs Prozent. Die baltischen Länder wollen nun mit eigenen russischsprachigen Fernsehkanälen gegensteuern: Keine plumpe Gegenpropaganda, sondern Sendungen in öffentlich-rechtlicher Tradition. Objektive Informationen, aber vor allem Unterhaltung in russischer Sprache. Die EU will dabei helfen und die Deutsche Welle auch. Über Details der Zusammenarbeit soll noch im Mai verhandelt werden.

TV-Programm als Identitätsstifter

Darja Saar kennt die Seelenlage der russischsprachigen Minderheit in Estland gutBild: DW/V. Witting

Estland ist am weitesten. Darja Saar wurde zur Chefredakteurin des russischsprachigen Kanals des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ERR auserkoren, der ab dem 28. September rund um die Uhr senden soll. Die energische junge Frau stammt aus Kasachstan. Sie war schon Tänzerin und Unternehmerin. "Ich liebe Herausforderungen", sagt sie. Deswegen reize sie auch das TV-Projekt, bei dem sie mit 20 redaktionellen Mitarbeitern auskommen muss. "Es geht uns nicht in erster Linie darum, gegen Putins Propaganda anzukämpfen. Das werden wir kaum schaffen", gibt sie zu. Ziel sei es, Identität zu stiften und die russischsprachigen Menschen besser zu integrieren. Deren Seelenlage versteht Saar gut, denn ihre Muttersprache ist Russisch.

In Narwa, im Osten Estlands direkt an der Grenze zu Russland, sprechen mehr als 90 Prozent aller Einwohner Russisch. Sie fühlen sich weitab der Hauptstadt Tallinn vergessen und schauen russisches Fernsehen. "Genau diese Menschen wollen wir erreichen", erklärt Saar. Entsprechende Pläne hätten schon lange in den Schubladen gelegen. Aber immer habe Geld und wohl auch der politische Wille gefehlt. Nun entdeckt Estland seine russischsprachige Minderheit neu.

Sicherheit unter dem Dach der NATO

Nur eine Stunde von Tallinn entfernt liegt der einzige Fliegerhorst Estlands: Ämari. Oberstleutnant Ülar Lohmus zeigt stolz die Anlage: blitzblanke Hangars, ein moderner Tower, eine Kantine und sogar ein eigenes Hotel. "Von hier aus sichern wir den Luftraum über dem Baltikum", erklärt er. Dabei hilft die NATO: Gerade hat eine britische Fliegerstaffel von den Spaniern übernommen, im September sind wieder die Deutschen dran. Auch von Litauen aus wird der Luftraum mit NATO-Unterstützung überwacht. Über eine schlagkräftige eigene Luftwaffe verfügen die baltischen NATO-Staaten nicht.

Rückhalt in der NATO: Estlands Präsident IlvesBild: DW/V. Witting

"Was Russland in der Ukraine tut, ist doch ein klarer Akt der Aggression", sagt Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves in einem Pressegespräch. Sein Land fühle sich aber unter dem Dach der NATO sicher. "Wenn die Russen wirklich angreifen sollten, dann wissen sie, dass es sich nicht nur um das kleine Estland handelt." Ilves meint damit die anderen 27 NATO-Mitgliedstaaten, die sich dazu verpflichtet haben, sich gegenseitig zu helfen. Aber dass es so weit kommt, hält der Präsident für unvorstellbar.

Militäretats aufgestockt

Dennoch wird in allen baltischen Ländern aufgerüstet. Nach einer Studie des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI will Estland rund 7,3 Prozent mehr für Rüstung ausgeben, Lettland 15 Prozent und Litauen, das die Wehrpflicht wieder eingeführt hat, sogar 50 Prozent mehr. In der Summe sind es aber nicht mehr als zwei Milliarden Euro, höchstens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zählt man die Berufssoldaten der baltischen Staaten zusammen, sind es nur rund 15.000 Mann.

Immer häufiger helfen nun die anderen NATO-Länder, wie im Fliegerhorst Ämari. Noch nie zuvor haben die baltischen Staaten Militärübungen mit weit mehr als 10.000 Soldaten durchgeführt. Die NATO baut eine schnelle Eingreiftruppe auf. Waffen werden nicht nur versprochen, sondern auch geliefert. Durch die Ukraine-Krise ist die Ostgrenze der NATO auf einmal mittendrin. Die Amerikaner haben dem Engagement einen Namen gegeben: "Persistent Presence" - dauerhafte Präsenz. Putin sei Dank.

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