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Umgang mit Verlust: Wenn Angehörige Suizid begehen

10. September 2025

Ilona und Patricia haben ihre Partner durch Suizid verloren. Wie bewältigt man diese Erfahrung? Einer von 100 Todesfällen weltweit ist laut Weltgesundheitsorganisation eine Selbsttötung.

Silhouette einer Frau vor einem Fenster, die sich nachdenklich an die Stirn fasst
Wie geht man mit dem Suizid von Menschen um, die einem nahestanden? Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance

Der Schmerz ist immer noch da, aber heute können sie wieder lachen. Ilona Lüth und Patricia Gerstendörfer sitzen auf hölzernen Stühlen nebeneinander und lächeln sich an. Die beiden Freundinnen verbindet eine traumatische Erfahrung: Beide haben Angehörige durch Suizid verloren.

"Alle Fragen, die ich mich nicht getraut habe, zu stellen, habe ich damals Patricia gestellt", erzählt Ilona der DW. "Brauche ich jetzt eine Therapie? Kann ich weiterarbeiten? Kann ich das ohne Medikamente schaffen?", sagt sie. "Patricia hat mich darin bestärkt, das zu tun, was mir guttut."

Als Ilona vor sechs Jahren unerwartet ihren Ehemann durch Suizid verlor, arbeitete sie gerade als Leiterin der Zollabteilung eines mittelständigen Unternehmens, ein Bürojob. Weiterzuarbeiten und sich abzulenken, half ihr, ein Stück Normalität in ihr Leben zu bringen. 

Dass sie die Verluste nicht allein bewältigen kann, war Ilona schnell klar. Sie suchte sich Hilfe. Ein Nachbar erzählte ihr von einer Selbsthilfegruppe in Berlin-Spandau. Dort lernte sie Patricia kennen, die die Gruppe seit über zehn Jahren ehrenamtlich leitet. 

"Im ersten Jahr fühlte ich mich furchtbar", erinnert sie sich, "da waren nur Schmerz und Entsetzen. Echte Trauer - das hat ganz lange gedauert, bis ich die fühlen konnte."

Anderen helfen und sich selbst helfen 

Es ist ein Montagabend im September in einem Spandauer Altbau. Hier finden im Erdgeschoss des Legasthenie-Zentrums regelmäßig Gruppentreffen für Hinterbliebene und Betroffene statt. 

Auf einem Holztisch in der Mitte stehen reichlich Kaffee, Tee, Schokolade und Taschentücher bereit; Prospekte und Flyer mit Hilfsangeboten liegen aus. Die Brettspiele im Bücherregal hinter dem Stuhlkreis täuschen, denn heute Abend geht es nicht um Spiel und Spaß, sondern um Schmerz und Bewältigung. 

Ilona Lüth (l.) und Patricia Gerstendörfer engagieren sich in der SuizidpräventionBild: Djamilia Prange de Oliveira/DW

Ilona trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: "Suicide Prevention Awareness". Wie Patricia engagiert auch sie sich mittlerweile ehrenamtlich in der Suizidprävention und als Trauerbegleitung. "Jeder Suizid hinterlässt sechs bis zehn Betroffene, für die das lebensverändernd ist. Das muss man mal hochrechnen", sagt Ilona. 

"Ich fühlte mich wie von der Welt abgeschnitten"

Das Engagement hilft nicht nur anderen Menschen, sondern auch Patricia und Ilona: Es gibt ihnen das Gefühl, gebraucht zu werden. Ohne dieses Gefühl wäre Patricia vielleicht heute nicht mehr hier.

Denn als ihr Mann sich 2007 das Leben nahm, spielte Patricia mit dem Gedanken, ihm zu folgen. Damals arbeitete die Sonderpädagogin in einem Heim für psychisch kranke Menschen. Und wusste, was sie im Medikamentenschrank vorfindet. 

"Ich habe mir die entsprechenden Sachen mitgenommen, um gewappnet zu sein", gibt sie zu. "Weil ich wusste, wenn dieser Zustand nicht aufhört, dann kann ich nicht überleben. Ich war nicht mehr ich selbst."

Wenn Menschen aus dem Umfeld ihr damals sagten, Zeit heile alle Wunden, machte sie das wütend. "Nein, da heilt nichts mehr. Es wird nicht mehr besser", sagte sie dann. Ein Dreivierteljahr ging es Patricia so. Dann beschloss ihr bester Freund, ins Nachbarhaus zu ziehen. 

Diese Entscheidung habe ihr vielleicht das Leben gerettet, sagt sie. "Ich konnte zu der Zeit nicht allein sein in der leeren Wohnung. Und dadurch, dass er dann immer da war, hatte ich das Gefühl, das erhält mich am Leben", erinnert sie sich. 

"Was, wenn ich einen Zug früher genommen hätte?" 

Als Patricias Mann sich das Leben nahm, hatte sie Schuldgefühle. "Ich dachte, ich hätte es nicht geschafft, ihn am Leben zu halten", sagt sie, machte sich für die Entscheidung ihres Mannes verantwortlich.  "Dabei hat er ja bewusst einen Zeitpunkt gewählt, zu dem ich 600 km weit entfernt war." Hätte sie ihn aufhalten können, wenn sie zu Hause gewesen wäre? "Was, wenn ich einen Zug früher genommen hätte", fragte sie sich immer wieder. "Es hat ewig gedauert, bis ich mich davon distanzieren konnte."

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In der Selbsthilfegruppe fand sie ihren Lebensmut wieder. Nach einigen Jahren als Teilnehmerin übernahm Patricia die Leitung. Seitdem sieht sie die Unterstützung anderer als eine Art Lebensaufgabe.  

Am heutigen Montagabend sind zehn Personen gekommen, viele von ihnen sind noch jung. Eine Teilnehmerin trauert um ihre Schwester, die gerade im Abitur steckte. Eine andere trauert um ihre Oma, die nicht mehr leben wollte. Patricia hört ihnen zu. Ein Patentrezept für den Schmerz gibt es nicht, sagt sie, aber der Austausch hilft. 

Suizid-Epidemie der Männer

Viele der durch Suizid Verstorbenen sind, wie auch in Patricias und Ilonas Fall, männlich. Das ist kein Zufall: Global gesehen werden rund drei Viertel aller Suizide von Männern begangen, das bestätigen mehrere Studien. 

"Je älter Männer werden, desto höher ist das Suizidrisiko", erklärt Ute Lewitzka, Professorin für Suizidprävention an der Goethe-Universität Frankfurt. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass Männer sich bei suizidalen Gedanken seltener Hilfe suchen. 

Aber auch sogenannte Risikogruppen, etwa Menschen mit traumatischen Lebenserfahrungen, Menschen, die von Flucht und Migration betroffen sind, Menschen mit körperlichen Erkrankungen, oder Mitglieder der LGBTQ-Community seien gefährdet, so Lewitzka.

Ute Lewitzka ist Professorin für Suizidforschung und -prävention an der Goethe-Universität FrankfurtBild: Maria Schlotte

Dass die Zahlen der Suizide weltweit lange rückläufig waren - außer in den USA, wo unter anderem die Verfügbarkeit von Schusswaffen eine zentrale Rolle bei Suiziden spielt - liege unter anderem auch an den verbesserten Hilfsangeboten, sagt Lewitzka. Zwischen 1990 und 2021 ist die globale Suizidrate laut Weltgesundheitsorganisation um fast 30 Prozent zurückgegangen. Doch seit 2021 steigen die Zahlen in einigen Ländern wieder an; in Deutschland von 2021 zu 2022 um 9,8 Prozent, so die Daten des Statistischen Bundesamts.

Warum, ist noch nicht eindeutig wissenschaftlich erfasst, aber neben mehr Angeboten zur Sterbehilfe - im Fachjargon Suizidassistenz - macht Lewitzka auch den Einfluss von Krisen und Kriegen verantwortlich. 

Es braucht mehr positive Beispiele

Suizid ist kein Phänomen unserer Zeit. 1774 beschrieb Goethe in "Die Leiden des jungen Werther" die innere Gefühlswelt seines unglücklich verliebten Protagonisten bis hin zu seinem romantisierten Suizid. Damit triggerte er eine Nachahmungswelle, die Forschende fortan den "Werther-Effekt" nannten.

Aber die Kehrseite, dass Mediendarstellungen auch positive Effekte haben können, sei noch zu wenig erforscht, erklärt Lewitzka. "Das Problem ist, wie wir über Suizid sprechen. Geschichten von Menschen, die suizidale Krisen erlebt haben, aber da durchgekommen sind, und was ihnen dabei geholfen hat, sind sogar schützend. Das ist der Papageno-Effekt." 

In Mozarts "Die Zauberflöte" spielt der Vogelfänger Papageno mit dem Gedanken, sich das Leben nehmen, weil er keine Partnerin findet. Als er kurz davor ist, seine Entscheidung umzusetzen, tauchen drei Knaben auf und machen ihm Mut. Papageno entscheidet sich gegen den Suizid. 

Sollten Sie selbst Suizidgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

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