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Politik

Holocaust-Quellen nach 70 Jahren öffentlich

Charlotte Potts
20. April 2017

Die Wiener Bibliothek in London macht ab Freitag Geheimdokumente aus UN-Archiven öffentlich. Diese belegen: Briten und Amerikaner wussten über Hitlers Massenmord an Juden viel früher Bescheid, als sie bislang zugaben.

Polen Auschwitz Eingang Konzentrationslager
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Sokolowski

Am 20. Januar 1942 trafen sich 15 hohe Beamte, Staatssekretäre und SS-Funktionäre am Berliner Wannsee und gaben die wohl grausamsten Beschlüsse der deutschen Geschichte zu Protokoll: "Im Zuge der Endlösung" sollte kein arbeitsfähiger Jude überleben, heißt es in den Dokumenten der so genannten Wannsee-Konferenz.

Die "Vernichtung der jüdischen Rasse", wie Hitler es einst formulierte, ist da schon seit Monaten im Gange; über eine halbe Million jüdischer Zivilisten wurden bereits während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion seit Juni 1941 ermordet. Bis zum Ende des Krieges 1945 fielen nach Schätzungen von Historikern sechs Millionen Juden der nationalsozialistischen Massenvernichtung zum Opfer.

Brisante Quellen waren 70 Jahre unter Verschluss

Lange Zeit taten die USA und Großbritannien so, als hätten sie von dem Massenmord nichts gewusst, bis sie 1945 in die Konzentrationslager vordrangen. Doch neu veröffentlichte Dokumente aus UN-Archiven belegen jetzt: Die Alliierten wussten besser und früher darüber Bescheid, was in Hitlers Deutschland passierte, als sie zugaben - nämlich bereits 1942.

Jüdische Frauen und Kinder auf dem Weg nach TreblinkaBild: picture-alliance/IMAGNO/Austrian Archives

Diese brisanten Quellen wurden einst von der Kommission für Kriegsverbrechen (UNWCC) gesammelt, die Beweismittel von Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg sicherte und 1943 in London gegründet wurde. 70 Jahre lang lagen die Dokumente in den Archiven der Vereinten Nationen in New York und waren nur äußerst schwer zugänglich. Wissenschaftler mussten eine Genehmigung ihrer Regierung oder des UN-Generalsekretärs einholen, um Einsicht in die Akten zu erhalten - und selbst dann konnten sie weder Kopien noch Notizen machen.

900 Gigabyte Daten über den Holocaust werden nun veröffentlicht

Doch warum wurden die Dokumente nicht früher einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht? "Bislang hatten die Wissenschaftler wohl kein Interesse. Die meisten Bücher, die bisher über die Kriegsverbrecherprozesse geschrieben wurden, ignorieren die UN-Kriegsverbrecherkommission", erklärt Ben Barkow, Direktor der Wiener Bibliothek, der DW. Seine Bibliothek ist es, die jetzt in London 900 Gigabyte Daten mit zehntausenden Unterlagen zugänglich macht, die unter anderem dokumentieren, wie die Alliierten mit den Kriegsverbrechen zwischen 1943 und 1949 umgegangen sind.

Alliierte bereiteten Klage gegen Adolf Hitler wegen Kriegsverbrechen vor

70 Jahre lagen die brisanten Akten im UN-ArchivBild: DW/I. Hell

Dan Plesch, Direktor des Instituts für Internationale Studien und Diplomatie an der University of London, überzeugte die UN-Archive, die Dokumente freizugeben und veröffentlichte seine Recherchen in dem gerade erschienenen Buch "Human Rights After Hitler: The Lost History of Prosecuting Axis War Crimes.“

Dort dokumentiert Plesch, dass die britische, die amerikanische und die sowjetische Regierung von mindestens zwei Millionen getöteten Juden wussten und davon ausgingen, dass weitere fünf Millionen gefährdet seien. Briten und Amerikaner sammelten Beweise und Zeugenaussagen für die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten und bereiteten sogar Klagen vor, auch gegen Adolf Hitler.

Mit UN-Akten Holocaust-Leugner bekämpfen

Bislang war wenig über das Todeslager Treblinka bekanntBild: picture alliance/PAP/M. Sokolowski

Die neu zugänglichen Akten umfassen auch hunderte Dokumente über das Todeslager Treblinka, von dem fast nichts überliefert ist, weil es fast keine Überlebenden gab. Die polnische Exilregierung hatte Beweise und Zeugenaussagen über Lager wie Treblinka und Auschwitz zusammengetragen und dann aus Osteuropa geschmuggelt.

Die Opfer seien gezwungen worden, ihre Kleidung abzulegen. Die "Böden aus Terracotta in den Gaskammern wurden rutschig, wenn sie nass waren", heißt es in einem Dokument vom April 1944. Pletsch hofft, durch die Veröffentlichung von solchen Aussagen Holocaust-Leugner zu bekämpfen.

Keine umfassende Verfolgung der Kriegsverbrechen

Es sind tausende von Anklageschriften, in denen die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten detailliert und schwarz auf weiß dokumentiert sind. Und dennoch verfolgten die Alliierten die Verantwortlichen der Mordmaschinerie auch nach dem Krieg nicht in vollem Umfang. "Es war der Druck aus Deutschland, der die Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ende brachte und zur Freilassung von vielen bereits verurteilten Nazis führte, die von den Alliierten festgenommen worden sind", sagt Plesch der DW.

Die Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse 1946: Göring, Heß und RibbentropBild: picture-alliance/dpa

Der erste Kanzler der jungen Bundesrepublik Konrad Adenauer wollte die Verbrechen der Nationalsozialisten möglichst schnell hinter sich lassen. Zudem habe die US-Regierung Angst gehabt, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland nach dem Krieg zu stark zu gefährden. Deutschland wurde zu einem zentralen Verbündeten der USA im Kalten Krieg, viele Nationalsozialisten kamen auf freien Fuß und die Vereinten Nationen machten die Nutzung der Unterlagen für Historiker nahezu unmöglich.

Ab dem 21. April online zugänglich

72 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges kann die Aufarbeitung dieser Quellen nun beginnen. Der Ort der Veröffentlichung ist passend: Bereits 1934 gründete Alfred Wiener die Bibliothek, um den Antisemitismus der Nationalsozialisten zu dokumentieren. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs ließ Wiener die Sammlung nach Großbritannien schiffen, wo er für die britische Regierung Beweise gegen das Hitler-Regime zusammentrug und entscheidende Dokumente für die späteren Nürnberger Prozesse lieferte, in denen die Hauptkriegsverbrecher verurteilt wurden. Der Katalog mit den so lange verborgenen Dokumenten kann ab dem 21. April online durchsucht werden. Die Wiener Bibliothek erwartet einen regelrechten Ansturm auf die Quellen.

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