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Politik

"Assanges Rechte systematisch verletzt"

3. Januar 2021

Am 4. Januar urteilt ein Londoner Gericht, ob Julian Assange an die USA ausgeliefert wird. Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter für Folter, kritisiert einen politischen Prozess und fehlende Rechtsstaatlichkeit.

Schweiz UN-Sonderberichtserstatter für Folter Nils Melzer
UN-Folterexperte Melzer sieht im Fall Assange elementare Rechte verletzt - und die Pressefreiheit in GefahrBild: picture-alliance/AP Photo/S. Di Nolfi

DW: Sie verfolgen als UN-Sonderberichterstatter für Folter den Fall von Wikileaksgründer Julian Assange und das Vorgehen der USA und Englands gegen ihn. Wie beurteilen Sie das Auslieferungsverfahren und die Anhörungen, die es dazu gegeben hat?

Nils Melzer: Das Verfahren verletzt ganz klar die grundlegenden Standards der Menschenrechte, eines ordentlichen Verfahrens und der Rechtsstaatlichkeit. Schon die Motivation hinter dem Auslieferungsantrag widerspricht grundlegenden rechtlichen Standards. Julian Assange wird von den Vereinigten Staaten wegen Spionage verfolgt, allein weil er investigativen Journalismus betrieben hat.

Er hat geheime Informationen einer Regierung veröffentlicht, bei der er nicht angestellt war, der gegenüber er keine Verpflichtungen hat. Er hat diese Informationen nicht selbst gestohlen. Sie wurden ihm von jemandem zugespielt, der Zugang zu den Informationen hatte. Und er hat sie veröffentlicht, weil es im öffentlichen Interesse war, sie zu veröffentlichen.

"Klare Beweise für Korruption, Kriegsverbrechen und anderes kriminelles Verhalten"

Warum waren die Wikileaks-Veröffentlichungen wichtig für die Öffentlichkeit?

Weil sie klare Beweise für Korruption, Kriegsverbrechen und anderes kriminelles Verhalten enthielten. Im Grunde genommen versuchen die Vereinigten Staaten hier, investigativen Journalismus zu kriminalisieren. Das ist das Ziel des Auslieferungsantrages, nichts anderes!

Bild: Reuters/S. Dawson

Und das britische System folgt hier leider den Vereinigten Staaten. Wir sehen, dass die Briten Julian Assanges Grundrechte systematisch verletzen, seine Verteidigung vernünftig vorzubereiten, Zugang zu seinen Anwälten zu haben, Zugang zu juristischen Dokumenten zu haben. Assange wurde in Isolationshaft gesteckt, wo er keinen Zugang zu seiner Familie und zu Besuchern hat - und wo er psychologisch in einen sehr regressiven Zustand erodiert, wie jeder Mensch in längerer Isolation. Und all das ohne jede rechtliche Grundlage.

Sie haben Julian Assange im Mai 2019 besucht, etwa einen Monat nach seiner Verhaftung. Zu dem Zeitpunkt hatte er schon sieben Jahre im Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London festgesessen. Wie war sein Gesundheitszustand zu diesem Zeitpunkt?

Sein Gesundheitszustand war schlecht. Ich hatte zwei spezialisierte Ärzte mitgenommen, einen Psychiater und einen forensischen Experten, die 30 Jahre lang mit Folteropfern gearbeitet hatten. Beide kamen unabhängig voneinander zu dem Schluss, Assange weist alle Anzeichen auf, die typisch für Opfer psychologischer Folter sind: intensive Angstzustände, chronische Stresssyndrome, die seine kognitiven Fähigkeiten und neurologischen Funktionen bereits messbar beeinträchtigt hatten.

Er hatte massiv unter der ständigen Gefahr gelitten, an die Vereinigten Staaten ausgeliefert zu werden. Und er wusste, welche Art von politischem Prozess und unmenschlicher Bestrafung ihn in den Vereinigten Staaten erwarten würde.

Was würde Julian Assange in den USA denn erwarten?

Um es zu verdeutlichen: Angeklagte in Fragen der Staatssicherheit erhalten in den USA keinen fairen Prozess. Sie werden hinter verschlossenen Türen angeklagt, basierend auf geheimen Beweisen, zu denen die Verteidigung keinen Zugang hat, und vor einer Jury, die voreingenommen ist, weil sie ausgewählt wird aus einer mehrheitlich regierungsfreundlichen Bevölkerung rund um Washington, D.C.. Bekanntermaßen wurde vor dem sogenannten "Spionagegericht" in Alexandria, Virginia, noch nie ein Angeklagter freigesprochen.

Während der Untersuchung aber auch im Strafvollzug werden diese Leute unter einem speziellen Haftregime festgehalten, ohne jede gerichtliche Beschwerdemöglichkeit. Das bedeutet im Wesentlichen totale Isolation über Jahre hinweg: Sie dürfen mit niemandem sprechen. Selbst wenn sie für 45 Minuten am Tag hinausgelassen werden, um spazieren zu gehen, wird man von einer Betonkiste in eine andere Betonkiste geführt, wo man dann alleine im Kreis läuft. Diese Art der Inhaftierung kommt eindeutig Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gleich. Das ist nicht nur meine Meinung; es ist die Meinung von Amnesty International, von meinen Vorgängern, von jeder ernsthaften Menschenrechtsorganisation in der Welt.

Mit diesem Bedrohungsszenario ist Julian Assange seit 10 Jahren konfrontiert. Zusammen mit der zunehmenden sozialen Isolation, der ständigen Diffamierung und Demütigung, hat das eine sehr tiefgreifende Wirkung auf seine psychologische Stabilität gehabt.

Als ich ihn besuchte, war er zwar in einer Einzelzelle, aber nicht in Isolationshaft. Er konnte ein- oder zweimal am Tag mit anderen Häftlingen sprechen. Aber bereits eine Woche später wurde er in die Krankenabteilung verlegt und bald darauf komplett von allen anderen Insassen isoliert. Diese Maßnahmen wurde erst bei Prozessbeginn im Februar etwas gelockert, doch dann mit dem Ausbruch von COVID gleich wieder verschärft. Im Endeffekt wird Assange seit mehr als einem Jahr in Isolationshaft gehalten.

"Die Briten waren empört, dass ich es gewagt habe, sie zu kritisieren."

Sie haben die Haft- und Prozessbedingungen gegenüber den britischen Behörden kritisiert. Wie haben die reagiert?

Ich habe die britischen Behörden zunächst mit meiner Einschätzung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung überhaupt konfrontiert, und habe sie aufgefordert, Assange auf keinen Fall an die Vereinigten Staaten auszuliefern.

Das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh wird auch "Englands Guantanamo" genanntBild: picture-alliance/empics/A. Devlin

Ich habe die Regierung auch mit den Informationen konfrontiert, die ich über die Verfahrensverstöße im Auslieferungsverfahren erhalten habe: ein voreingenommener Richter, der Assange ohne jeden Grund im Gerichtssaal beleidigt; eine befangene Richterin, deren Ehemann mehrfach von Wikileaks exponiert worden war; klar ungenügenden Zugang zu Anwälten und Prozessakten; Unterdrückung wichtiger Zeugenaussagen und andere Benachteiligungen im Beweisverfahren. Assanges Anwälte konnten ihn wegen COVID sechs Monate lang nicht besuchen, sondern mussten sich mit kurzen Telefonaten begnügen. Auf der anderen Seite haben Sie die Vereinigten Staaten mit unbegrenzten Ressourcen und Armeen von Anwälten, die den Fall gegen ihn vorbereiten. Das ist ein klarer Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot.

Die Briten waren empört, dass ich es gewagt habe, sie zu kritisieren. Aber sie haben sich geweigert, mir Gegenargumente zu liefern oder sonst in einen konstruktiven Dialog mit mir einzutreten. Stattdessen reagieren sie einfach nicht mehr auf meine Interventionen. Erst vor ein paar Tagen habe ich erneut interveniert und gefordert, Julian Assange für den Rest des Auslieferungsverfahrens zumindest in Hausarrest zu nehmen. Aber keine Reaktion.

"Schauen Sie sich den Umgang mit Augusto Pinochet an"

Wäre Hausarrest denn eine Option im britischen System?

Schauen Sie sich den Umgang mit Augusto Pinochet an. Der ehemalige Diktator von Chile war eineinhalb Jahre lang in Auslieferungshaft in London. Aber Pinochet wurde nicht in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt, er wurde in einer Villa unter Hausarrest gestellt. Dort hat ihn sogar die ehemalige Premierministerin Thatcher besucht und ihm Whiskey mitgebracht. Pinochet führte während seines Auslieferungsverfahrens ein sehr privilegiertes Leben.

Der Massenmörder Pinochet verlebte sein Auslieferungsverfahren komfortabel in einer VillaBild: AP

Man muss wissen: In Auslieferungshaft ist man kein Krimineller. Man ist nur inhaftiert, damit man nicht fliehen kann, falls man am Ende doch ausgeliefert wird. Dass Julian Assange in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt wird, obwohl er kein verurteilter Krimineller ist und nur zu präventiven Zwecken festgehalten wird, entbehrt jeder Verhältnismäßigkeit, ist unnötig und ohne rechtliche Grundlage. Man will hier andere Journalisten einschüchtern und Assange selbst zum Schweigen bringen, damit er seine journalistische Arbeit nicht machen kann, auf deren freie Ausübung er eindeutig Anspruch hat.

Nach all dem, was Sie gerade gesagt haben: Welches Urteil wird Bezirksrichterin Vanessa Baraitser am 4. Januar Ihrer Einschätzung nach fällen? Und wie könnte der juristische Kampf weitergehen?

In diesem Prozess sind Julian Assanges Verfahrensrechte systematisch verletzt worden. Zeugen wurden nicht zugelassen. Die Öffentlichkeit hatte keinen angemessenen Zugang zu den Anhörungen. Und es war immer die Verteidigung, die Einschränkungen hinnehmen musste, nie die Staatsanwaltschaft. Das war eindeutig kein faires Verfahren. Daher muss ich leider davon ausgehen, dass die erste Instanz die Auslieferung durchwinken wird.

Es sei denn, der neugewählte Präsident der USA hat die Briten wissen lassen, dass er eine andere Lösung vorzieht. Man darf sich hier keine Illusionen machen: In einem durch und durch politischen Prozess wie diesem geht es nicht ums Recht und ist auch auf die richterliche Unabhängigkeit leider kein Verlass. Das haben die verschiedenen Verfahren gegen Assange der letzten zehn Jahre sehr deutlich gemacht.

"Präsident Trump sollte Julian Assange begnadigen"

Es gibt eine weitere Möglichkeit: Präsident Donald Trump könnte Julian Assange in seinen verbleibenden Tagen im Amt begnadigen. Die Rufe nach Begnadigung werden immer lauter. Sehen Sie eine reale Chance, dass das passieren könnte?

Das ist schwer zu sagen. Aber ich möchte Präsident Trump sehr ermutigen, Assange zu begnadigen. Präsident Trump hat immer wieder gesagt, er sei gekommen, um mit dem "korrupten Establishment" in Washington aufzuräumen. Und wenn er das wirklich will, dann muss er Whistleblowing fördern und die Veröffentlichungen von Beweisen für Korruption und Kriegsverbrechen.

Julian Assange ist kein Feind der USA. Wenn jemand der Feind Amerikas ist, dann sind es die Korruption und die Straffreiheit, die Beamte und Regierungsmitglieder genießen, wenn sie die Gesetze brechen, an die Amerika gebunden ist und die es sich selbst gegeben hat. Wenn die USA für Werte wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte stehen wollen, können sie nicht Kriegsverbrechern Straffreiheit gewähren, welche ihr Land verraten und seine Gesetze missachten. Dann müssen sie Whistleblower und Journalisten schützen, die solche Verbrechen aufdecken. Und wenn Präsident Trump diesen Werten treu ist, dann sollte er Julian Assange begnadigen.

Der Schweizer Völkerrechtler Nils Melzer ist seit 2016 UN-Sonderberichterstatter für Folter. Zuvor war Melzer zwölf Jahre lang beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in zahlreichen Krisengebieten tätig.

Das Gespräch führte Matthias von Hein.