Wegweisender UN-Plan für den Irak?
11. November 2019Die Gewalt im Irak reißt nicht ab. Am Sonntag erschossen Sicherheitskräfte in Basra drei Demonstranten, über hundert wurden verletzt. Auch in Bagdad kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, dort verletzten die Sicherheitskräfte über 20 Menschen. Seit Beginn der Proteste gegen Korruption und Vetternwirtschaft Anfang Oktober erhöhte sich die Zahl der Toten auf mindestens 319 Personen, wie die vom Parlament gewählte Menschenrechtskommission am Sonntag laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur INA erklärte. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sprach von "blutigen Tagen übermäßiger Gewalt" im Irak. Die Proteste hätten sich in "nichts weniger als ein Blutbad" verwandelt.
Um der Gewalt entgegenzutreten, hat die "Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak" am Wochenende ein Papier veröffentlicht, auf dessen Grundlage die grassierende Gewalt umgehend gestoppt werden soll. Anschließend soll ein nationaler Dialog in einen umfassenden Friedensprozess münden.
Als innerhalb einer Woche umzusetzende Sofortmaßnahmen schlägt die Unterstützungsmission unter anderem vor, dass alle seit dem 1. Oktober inhaftierten friedlichen Demonstranten freigelassen werden; friedliche Demonstranten sollen nicht mehr angegriffen werden; die für die gezielte Verfolgung von Demonstranten verantwortlichen Personen sollen vor Gericht gestellt werden.
Zudem fordert die Mission alle regionalen und internationalen Parteien auf, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Irak einzumischen und dessen Souveränität zu respektieren.
UN-Plan ein "guter Anfang"
Der Plan der UN-Mission sei grundsätzlich ein guter Anfang, sagt Dirk Kunze, Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in Amman. "Die Grundforderung, erst einmal einen Dialog zu beginnen, ist angemessen. Dies gilt umso mehr, als die Behörden von Anfang an gewalttätig gegen die Demonstranten vorgingen. Insofern ist die Forderung, erst einmal befriedend zu wirken, sicherlich nicht falsch", so Kunze im DW-Interview.
Im Irak nahmen die Demonstranten das Papier der UN-Kommission unterschiedlich auf. Einige hatten angesichts der Gewalt bereits vor Tagen ein Engagement der Vereinten Nationen gefordert.
Andere aber sind skeptisch. Viele Demonstranten sähen in den UN-Vorschlägen kaum mehr als vordergründige kosmetische Maßnahmen, sagt Bassem al-Shara, Chefredakteur der liberalen irakischen Zeitung "Al-Mada". Auch er selbst hält sie für wenig angemessen. "Das Papier geht auf die Probleme des Landes nur oberflächlich ein und versäumt es, seine grundsätzlichen Schwierigkeiten aufzugreifen", so al-Shara im Gespräch mit der DW.
Wie al-Shara werfen auch andere Iraker der UN-Mission vor, den Ernst der Lage zu unterschätzen.
Mittelfristige Maßnahmen
Allerdings betont die Mission, dass die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen nur erste Schritte seien, denen weitere folgen müssten. Dazu gehörten mittelfristig etwa eine Reform des Wahlrechts, des Sicherheitssektors und der Kampf gegen die Korruption. Langfristig sollte dann die Verfassung überarbeitet und neue Gesetze - etwa zur Sozialversicherung und zur Verteilung der Einkünfte aus den Bodenschätzen - auf den Weg gebracht werden.
Auch diese Vorschläge wiesen in die richtige Richtung, sagt Dirk Kunze. "Das Vertrauen in die staatlichen Akteure ist weitgehend verschwunden. Die Reformen wären Schritte, um verlorenes Vertrauen wieder herzustellen."
Die Voraussetzungen dafür seien zu Teilen gegeben, schreibt der Polit-Analyst Haider Nizar Salman in "Al-Mada". Er weist darauf hin, dass unter der schiitische Bevölkerung eine neue Generation herangewachsen sei, die dialog- und kompromissbereit sei. "Diese neue Generation ist besser ausgebildet und hat eine umfassendere Kultur als die ihr vorhergehende, rückwärts gerichtete, die sich ausschließlich auf die Bewahrung der Macht richtete", so Salman unter Anspielung auf die Regierungsjahre von Premier Nuri al-Maliki (2006-2014). "Demgegenüber ist die junge Generation offen und modern, fähig zu Kreativität und umsichtigen Handeln."
Wachsende Kritik am Iran
Zugleich scheint diese Generation auch nicht mehr gewillt, den Iran als ihre Schutzmacht zu sehen. Seit Ende Oktober griffen die Demonstranten immer häufiger auch irankritische Motive auf, heißt es in der Internetzeitung "Al-Monitor". "Es gibt allgemeine eine große Zurückweisung gegenüber dem iranischen Einfluss und einen deutlichen Anstieg des Patriotismus", zitiert die Zeitung den Politologen Senad al-Fadhel von der Universität Nadschaf. "Dieser kollektive Zorn resultiert aus den iranischen Interventionen im Irak. Die anti-iranischen Gefühle sind offensichtlich und können nicht missdeutet werden." Auch im Netz häuft sich die Kritik am Iran.
Viele Iraker sähen immer deutlicher, dass der iranische Einfluss im Irak und überhaupt in der Region für die Akteure vor Ort wenig bringe, sagt Dirk Kunze von der Friedrich-Naumann-Stiftung.
"Sowohl im Libanon als auch im Irak hat sich das Engagement des Iran bisher durchweg zum Nachteil der beiden Länder ausgewirkt." Konnte sich der Iran bislang darauf berufen, er verteidige die Schiiten im Irak gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat", so habe sich dieses Argument inzwischen erschöpft. "Diese Argumentation greift einfach nicht mehr. Stattdessen zeigt sich, dass überall dort, wo der Iran aktiv ist, die ökonomische Entwicklung nicht vorankommt. Aber eben die ist für den Irak wie auch den Libanon äußerst relevant."
Herausforderung Konfessionalismus
Offen ist, ob auf den Protest gegen den Iran der zweite, für die Befriedung des Landes zwingende Schritt kommt: die Überwindung des konfessionellen Systems. Denn noch vertrauen sich Schiiten und Sunniten überwiegend den ihre Konfessionen repräsentierenden Parteien an. Es ist ein schwieriger und zäher Prozess, der sehr viel Zeit brauche, sagt der an Beiruter Haigazian-Universität lehrende Politikwissenschaftler Maximilian Felsch. "Viele Menschen profitieren von dem konfessionellen System. Sie haben natürlich Angst, dass sie dann die ersten Leidtragenden sind, wenn sie das System wandelt."