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Politik

Flucht in eine Zukunft ohne Gewalt

Andrea Grunau Wuppertal
24. Oktober 2018

Sie kommen aus Afghanistan, Syrien, Somalia oder Guinea - allein, ohne Eltern, oft unter Lebensgefahr. Junge Geflüchtete arbeiten hart für ein neues Leben. Alleine ist das schwer zu schaffen - doch Vormünder helfen.

Jugendkulturfest der Diakonie in Wuppertal | Mushtaag Arab
"Ich bin auf Erfolg programmiert, sie auch", sagt Monika Küpper (re.), die Mushtaag Arab (17) als Vormund unterstütztBild: DW/A. Grunau

"Ich war zehn Jahre alt, als ich das letzte Mal Oma umarmte. Ich war zehn Jahre alt, als mir die Kindheit weggenommen wurde", Rojin Namer (15) liest ein Gedicht über die verlorene Kindheit in ihrem syrischen Heimatdorf. Es ist ganz still im Publikum beim Jugendkulturfest der Diakonie Wuppertal für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) und ihre Vormünder - aufmerksame Stille für Texte, die Rojin Namer, Shahzamir Hataki, Yasser Niksada und Robina Karimi vom "Poetry Project" in Berlin über ihre Flucht-Erfahrungen geschrieben haben.

Spiegel-Auslandskorrespondentin Susanne Koelbl, die aus Kriegsgebieten berichtet hat, regte das Projekt 2015 an, um Fremdheit zu überbrücken und über Gedichte Gefühle zu vermitteln. Die Jugendlichen lesen in mehreren Städten. Im Wuppertaler Publikum können viele besonders gut verstehen, wovon sie sprechen - aus eigener Erfahrung oder durch die jungen Menschen, denen sie helfen.

"Nach vorne gucken, nicht nach hinten"

Mushtaag Arab (17) aus Somalia gefällt es, wie die Jugendlichen ihre eigene Geschichte auf der Bühne vortragen. Sie selbst floh vor drei Jahren nach Europa. Zum Jugendkulturfest ist sie mit Monika Küpper gekommen. Vermittelt vom Projekt "Do it!" der Diakonie Wuppertal unterstützt die Lehrerin die Jugendliche als ehrenamtlicher Vormund: "Die jungen Menschen sind nicht ohne Grund hier", sagt sie: "Ich hatte keine Ahnung, was Flucht heißt." Wie schwer dieser Weg ist, hat sie auch von anderen Schülerinnen und Schülern erfahren. Deshalb hat sie kein Verständnis dafür, "was politisch abgeht" in Deutschland. Etwa wenn über Flüchtlinge gemeckert werde, "wenn man bedenkt, wie gut es uns geht".

Zum Jugendkulturfest der Diakonie Wuppertal kamen auch viele afrikanische Künstler und GästeBild: DW/A. Grunau

Mushtaag Arab bedankt sich überschwänglich für ihre Hilfe: "Immer ist sie bereit, mir zu helfen, immer!" Monika Küpper lobt ihren Fleiß und die sehr guten Noten, sie fühlt sich mit ihr verbunden: "Ich bin auf Erfolg programmiert, sie auch." Die 17-Jährige will weiter lernen, betont sie selbst, im Deutschen immer besser werden und in der Schule. Sie möchte Abitur machen und studieren. Mathelehrerin möchte sie werden wie ihr Vormund und "nach vorne gucken, nicht nach hinten". Deshalb ist es Monika Küpper, die erzählt, dass der Vater in Somalia verschleppt wurde und dass ihr Mündel eine schwierige Flucht hinter sich hat - auch wenn sie mit dem Flugzeug nach Deutschland kam und nicht übers Mittelmeer wie Shahzamir Hataki, der auf der Bühne steht.

"Die kleinen Kinder waren alle tot"

"Es waren viele Kinder im Boot. Es kenterte. Ich hatte furchtbare Angst", so schildert der Jugendliche aus Masar-i-Scharif den tödlichen Schrecken auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland: "Alle schrien, ich auch." Shahzamir Hataki liest sein Gedicht auf Dari, dann wird übersetzt: "Eine Mutter ertrank vor meinen Augen, ihr Kind im Arm." 65 Menschen waren an Bord, zwei Stunden warteten sie im kalten Wasser auf Rettung: "Überlebt haben 20 Menschen. Die kleinen Kinder waren alle tot". Der junge Afghane kam ins Krankenhaus, er war selbst erst 15 Jahre alt. Nach 20 Tagen konnte er seine Mutter anrufen. Er sagte ihr, er sei wohlbehalten angekommen: "Wie konnte ich ihr sagen, dass ich zehn Tage nur Kakao zu mir nehmen konnte, weil mein Körper voller Salzwasser war."

Gedicht von Shahzamir Hataki über das Kentern bei der Flucht übers Mittelmeer - MP3-Stereo

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Betroffen schweigen die Zuhörer in Wuppertal, dann klatschen alle. Shahzamir Hataki (17) wird die traumatische Erfahrung nie vergessen. "Wenn Leute fragen, wie es uns geht, sagen wir freundlich, uns geht’s gut", erzählt er nachdenklich beim Interview hinter der Bühne. Mit ihren Gedichten wollten die Jugendlichen zeigen, "dass wir keine schlechten Menschen" sind. Er hat "totale Angst", was passiert, wenn er volljährig wird, weil Afghanen immer häufiger abgeschoben werden. Gerade hat er eine Ausbildung zum Fachinformatiker begonnen, parallel macht er sein Fachabitur.Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die in Deutschland von der Jugendhilfe betreut werden müssen, ist seit 2016 stark zurückgegangen, das zeigt eine Aufstellung des Mediendienstes Integration. Gesunken ist auch die Zahl der Asylanträge junger Geflüchteter und die Schutzquote, also der Anteil der positiven Asylentscheide: 2016 waren es noch 90 Prozent, bis Oktober 2018 sank die Schutzquote auf 60 Prozent.

Viele der Jugendlichen wünschen sich, ihre Eltern nachholen zu können, auch Mushtaag Arab hofft darauf. Der Europäische Gerichtshof hatte in einem Urteil über eine junge Geflüchtete in den Niederlanden festgehalten, dass unbegleitete Minderjährige ihre Familie auch dann nachholen dürfen, wenn sie während des Asylverfahrens volljährig geworden sind. Entscheidend sei, wann der Asylantrag gestellt wurde, und nicht, wie lange die Behörden brauchen, ihn zu bearbeiten. Nach deutschem Recht dagegen muss ein Flüchtling noch minderjährig sein, wenn die Eltern einreisen. Die deutschen Ministerien wollen prüfen, ob sie Konsequenzen aus dem Urteil ziehen. Bis dahin aber bleibt das für die Visa-Erteilung zuständige Auswärtige Amt bei der restriktiven deutschen Regelung.

"Hier wohnt das Glück, aber auch die Härte"

Yasser Niksada (15) wuchs als afghanischer Flüchtling im Iran auf. Sein Gedicht richtet sich an seinen Bruder, der zurückblieb: "Glaube mir, hier ist nicht das Paradies. Hier wohnt das Glück, aber hier wohnt auch die Härte." Härte kennt auch Monika Küpper durch die Begleitung Mushtaag Arabs. Migranten würden nicht gut behandelt, "wenn die nicht jemand im Rücken haben, der mitgeht, der vermittelt", sagt sie. Sie berichtet empört von einzelnen Ärzten, "die sehr unverschämt waren zu ihr, zu uns. Das hätte ich nicht gedacht".

Samosas nach somalischem Rezept - Mushtaag Arab ist dankbar für jede Hilfe und möchte selbst Helferin werdenBild: DW/A. Grunau

Um ungerechte Härte geht es auch im Gedicht von Robina Karimi (17). "Es ist kein Verbrechen, Afghanin zu sein", betont sie. Sie ist aus Kabul geflohen und beklagt, dass Afghanen "geringgeschätzt" würden. Jedes Land bringe Wohltäter, Genies und Verbrecher hervor. "Warum werden wir Afghanen alle dafür bestraft, wenn sich jemand schlecht verhält?", fragt sie. Bei den Behörden erlebe sie großes Misstrauen, sagt sie später der DW. Man unterstelle ihr, dass sie lüge. Berichte aus Afghanistan über tägliche Bombenanschläge belasten sie: "Viele Menschen sterben, viele Kinder, viele Frauen." Sie kann nicht weitersprechen, ihr kommen die Tränen. In ihrem Gedicht bittet sie fast flehend: "Hört auf damit, uns zu quälen."

"Wenn man ein Ziel hat, wird man das schaffen"

Robina Karimi, Rojin Namer und Yasser Niksada haben früher nie Gedichte geschrieben. Shahzamir Hataki dagegen kommt aus einer Familie von Dichtern: Sein Vater ist Poet, sein Großvater war es. Er selbst hat mit 11 Jahren angefangen zu dichten. Die anderen Jugendlichen waren es nicht gewohnt, so ihre Gefühle auszudrücken. Jetzt sind sie froh, dass Menschen zuhören. "Wenn jemand meine Gefühle versteht", sagt Yasser Niksada, "dann versteht er, wie schwer das war für meine Eltern und für mich, dass ich den Iran verlassen habe - neun Länder auf dem Weg - alleine, ohne Eltern". Es ist eine Zerreißprobe für ihn: "Die Seele ist im Iran bei meiner Familie, der Körper ist hier." Die Mädchen und er wollen in Berlin ihr Abitur machen. Sie sind ebenso zielstrebig wie Mushtaag Arab, die ihnen zuhört.

"Die Seele bei der Familie, der Körper hier" - die Jugendlichen vom Poetry Project fassen ihre Fluchterfahrungen in WorteBild: DW/A. Grunau

"Auf einem Gymnasium ist es anstrengend", sagt Rojin aus Syrien, das schreckt sie aber nicht ab: "Wenn man ein Ziel hat, wird man das schaffen. Es war mein Ziel, Deutsch zu lernen, das habe ich auch erreicht." Robina schloss in Afghanistan die 10. Klasse als Zweitbeste ab, berichtet Vormund Sophia Schlette. In Berlin hatte sie im Sommer das beste Zeugnis, obwohl auch sie traumatisiert nach Deutschland kam. Sie hat ein Praktikum am Institut für Mathematik der Technischen Universität gemacht. Sophia Schlette unterstützt Robina bei der Auseinandersetzung mit den Behörden.

Während Amtsvormünder für viele Jugendliche zuständig sind, ist eine ehrenamtliche Vormundschaft eine 1:1-Betreuung. In Wuppertal bringt das Diakonie-Projekt "Do it" Ehrenamtliche und Jugendliche zusammen. Die Erwachsenen lernen, was sie beim Umgang mit traumatisierten Menschen beachten müssen und nehmen an Workshops zu interkultureller Kompetenz teil. Sie erfahren, welche Aufgaben ein Vormund hat und wie sie mit dem zuständigen Jugendamt zusammenarbeiten.

"Bei ihnen ist mein Leben sicher"

"Do it" prüft, wer zusammenpasst. Zwei, die wirken, als hätten sie sich gesucht und gefunden, sind Halimatou Diallo (17) aus Guinea und Raffaella Di Lucrezia. Sie strahlen um die Wette, nicht nur fürs Foto. Halimatou Diallo ist vor einer Zwangsheirat geflohen. Raffaella Di Lucrezia stammt aus Italien und hat mit ihrem Mann Burghard Klenke lange in England gelebt, bevor sie nach Deutschland kam. Sich fremd fühlen, das kennt sie auch, sagt sie.

Sicherheit und Hilfe: Halimatou Diallo (17) mit Vormund Raffaella Di Lucrezia und ihrem Mann Burkhard KlenkeBild: DW/A. Grunau

Wie die meisten UMF lebt auch die Jugendliche aus Guinea in einer betreuten Wohngemeinschaft, die sie auf dem Weg in die Selbstständigkeit begleitet. Mit Raffaella Di Lucrezia kocht sie und geht zum Kickboxen, sie besuchen Museen und Verwandte des Ehepaars. Sie lachen viel. Die 17-Jährige, die ihren Vater verloren hat und übers Mittelmeer nach Europa kam, fühlt sich geborgen. Ihre "neue Familie", wie sie Raffaella Di Lucrezia und ihren Mann nennt, will sie auf keinen Fall verlieren: "Wenn ich bei ihnen bin, ist mein Leben sicher." Sie ist dankbar für die Hilfe beim Lernen: "Wer nicht lernt, hat keine Zukunft."

Als Vormund Zeichen gegen Rassismus setzen

Von den Schulen kommen sehr positive Rückmeldungen zu den jungen Geflüchteten, berichtet Diakonie-Flüchtlingsberaterin Maria Shakura: "Die sind alle so lerninteressiert." Sorge mache ihr aber, dass sich das gesellschaftliche Klima verschlechtert. 2015 und 2016 kamen Anrufe: "Wir würden gerne Flüchtlinge aufnehmen." Jetzt gebe es komische Blicke und eine veränderte Behandlung in den Behörden: "Auch Mitarbeiter, die immer total freundlich waren, verhalten sich inzwischen anders." Noch schlimmer, sagt Shakura, sei die Zunahme rassistischer Beleidigungen und Gewalt. Ein junger Geflüchteter aus Afghanistan, der von seinem Freund kam, "ist windelweich geschlagen worden". Darüber werde nicht berichtet.

Zeichen setzen gegen Rassismus und Ausgrenzung, so versteht Monika Küpper ihre Vormundschaft für Mushtaag Arab. "Es ist schön, sie kennengelernt zu haben", sagt sie und blickt lächelnd auf die 17-Jährige: "Das hat mein Weltbild verändert und erweitert. Das kann ich jedem nur raten."

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