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"Gemeinsam dafür einstehen: Nie wieder!"

26. Januar 2022

Mehr als 40 Angehörige seiner Familie starben in Auschwitz. Der Präsident der Europäischen Rabbiner-Konferenz, Rabbiner Pinchas Goldschmidt, über die Erinnerung seiner Familie und den Umgang mit dem Holocaust.

Pinchas Goldschmidt, Rabbiner
Rabbiner Pinchas GoldschmidtBild: Kai-Uwe Heinrich/Tagespiegel/imago images

Auschwitz, das Grauen von Auschwitz gehört zur Familiengeschichte von Rabbiner Pinchas Goldschmidt. Im Interview der Deutschen Welle schildert der 58-Jährige das Schicksal seiner Vorfahren und formuliert Mahnungen für die Gegenwart. Der gebürtige Züricher ist seit 2011 Präsident der Europäischen Rabbiner-Konferenz.

DW: Rabbiner Goldschmidt, vor sieben Jahren begegneten wir einander beim Gedenken an die Befreiung am 27. Januar in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Und im Gespräch berichteten Sie, dass dort mehr als 40 Ihrer Verwandten von den Deutschen ermordet wurden. Wir standen da in der klirrenden Kälte, und dann schwiegen wir lange. Kann ein Außenstehender einen solchen Verlust überhaupt nachempfinden?

Rabbiner Pinchas Goldschmidt: Beim Thema Holocaust wollen die Menschen immer Zahlen hören: 1,5 Millionen ermordete Kinder, sechs Millionen ermordete Juden in der Schoah. Aber alle Zahlen bleiben letztlich doch abstrakt. Wenn Sie dann sagen: Meine Urgroßeltern starben in Auschwitz, deren Geschwister, die Schwestern und Brüder meines Großvaters, dann bekommen die Opfer Namen und Gesichter. Jedes dieser Opfer hatte sein eigenes Leben, seine Sorgen, seine Freuden, seine Träume. Es waren jüngere Menschen und ältere. Und jedes dieser Leben endete abrupt in dieser Tötungsmaschine, in Auschwitz.

Rabbiner Pinchas GoldschmidtBild: Stefano Costantino/SOPA Images via ZUMA Press/picture alliance

Ihre Großeltern überlebten. Wie haben sie vom Überleben gesprochen? Vom Vermissen?

Meine Großeltern mütterlicherseits lebten in Wien. Aber die Großmutter erkrankte an Tuberkulose, wenige Wochen vor dem "Anschluss" (den Begriff für die nationalsozialistische Angliederung Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 verwendet der Rabbiner im englisch geführten Interview auf Deutsch; d. Red.). Deshalb reisten sie in die Schweiz, in ein Sanatorium in den Bergen. Als dann der "Anschluss" kam, blieben sie in der Schweiz. Das hat ihnen das Leben gerettet.

Meine Großeltern haben im Grunde nie über den Holocaust gesprochen. Mein Großvater … Ich denke, es war eine so schreckliche Wunde in seinem Herzen ... Eigentlich hat er dieses Kapitel nie mehr geöffnet. Die ungarischen Juden, zu denen unsere Familie zählte, wurden zu Sommerbeginn 1944 nach Auschwitz deportiert und dort bald in den Gaskammern getötet. Das genaue Datum weiß man nicht einmal. So gedenken wir ihrer stets am Schawuot-Fest (jüdisches Erntedankfest, d. Red.) …

… das im Frühsommer begangen wird.

Ja. Und ich werde nie vergessen, wie aufgeregt, wie erschüttert unser Großvater an jedem Schawuot beim Gedenkgebet war. Nur bei diesen Gelegenheiten habe ich ihn weinen sehen und voller Emotionen reden hören von den Eltern und Geschwistern, die ermordet wurden.

Gedenksteine vor der Österreichischen Nationalbank in Wien erinnern an die ermordeten österreichischen JudenBild: Georges Schneider/photonews.at/imago images

Erinnern Sie sich selbst an Ihren ersten Besuch in Auschwitz?

Zum ersten Mal habe ich die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau gemeinsam mit meiner Frau Dara und Ronald Lauder besucht. Das war 1998. Lauder begann damals, mit seiner Stiftung den Erhalt der Gedenkstätte zu unterstützen. Bei dieser Reise nahm er mich mit. Sie war für mich sehr emotional. Im Museum die Berge von Kinderschuhen zu sehen, das war ein Moment, den ich nicht vergesse.

Wie präsent sind Ihrer Generation all jene aus der Familie, die in der Schoah ermordet wurden?

Das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.Bild: Jakub Porzycki/NurPhoto/picture alliance

Nur ein Detail. Meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters, hieß Mariam Golda. Nun haben wir vor zwei Jahren eine Enkelin bekommen, die Tochter einer unserer Töchter, die in Philadelphia in den USA lebt. Sie heißt Mariam Golda. Sie ist die erste in der Familie, die den Namen bekam. Ich habe nun eine Enkelin, die den Namen meiner Urgroßmutter trägt. 

Die Zahl der längst hochbetagten Auschwitz-Überlebenden nimmt rasch ab ...

Ja, leider verlassen die letzten Überlebenden allmählich unsere Welt. Ihre Zeugnisse sind dann nicht länger Teil unseres Lebens. Aber sie bleiben Teil unserer Geschichte.

In Israel besucht jedes Schulkind mindestens einmal die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Würden Sie sich wünschen, dass Schülerinnen und Schülern in Deutschland auch in den Gedenkstätten stärker das Konkrete der Schoah vermittelt wird?

Jedenfalls ist es ungemein wichtig, dass das, was der Holocaust uns gelehrt hat, jedem einzelnen präsent bleibt. Und dass die Nachfahren der Opfer und die Nachfahren der Täter gemeinsam dafür einstehen: Nie wieder! Dabei ist ein Besuch der Orte des Leids und der Vernichtung ein wichtiger Faktor.

Junge Deutsche in Auschwitz

12:31

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Was verändert sich, wenn es keine Zeuginnen und Zeugen mehr gibt?

Die große Gefahr ist, dass das Ganze einfach zu einer Zahl, einer Jahreszahl oder Statistik wird, so wie der Erste Weltkrieg oder die Napoleonischen Kriege. Aber es ist weit mehr als das. Es ist etwas ganz anderes. Europa, wie wir es heute kennen, wurde gebaut auf den Krematorien von Auschwitz. Darauf erwuchs das Ziel, nie mehr auf Antisemitismus, Rassenhass oder Kolonialismus zu setzen. Das heutige Europa steckt nun wieder in kräftigen politischen Turbulenzen. Aber wir dürfen nie vergessen, was passieren kann, wenn die grundlegenden Werte nicht respektiert werden.

Nach dem Wort von Primo Levi: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen"?

Ja. Bedauerlicherweise kann sich Geschichte wiederholen. Und wir hoffen und beten, dass so etwas wie Auschwitz nie wieder passiert. Aber wir müssen unsere Kinder entsprechend erziehen, und wir müssen entschiedener sicherstellen, dass es bei diesem "Nie wieder" bleibt. Und vergessen Sie nicht: Es ist das Schweigen der Mehrheit, dass die Minderheit in die Lage versetzt, die Welt zu zerstören.

In Zeiten der Corona-Pandemie häufen sich bei Demonstrationen in Deutschland und Österreich Szenen, bei denen sich Kritiker der Impfung oder der Maskenpflicht auf die Verfolgung der Juden beziehen. Manchmal tragen Demonstrierende einen gelben Stern an der Kleidung. Oder sie vergleichen ihre Lage mit der in Konzentrationslagern. Was macht das mit Ihnen?

Bei einer Demonstration in Leipzig im November 2021Bild: AFP

Das ist die Trivialisierung einer Tragödie und wird der Menschlichkeit nicht helfen. Ich will mich gar nicht zum Recht von Menschen äußern, sich impfen oder nicht impfen zu lassen. Aber Holocaust-Bilder und -Symbole zu verwenden, um Aufsehen zu erregen, das ist eine hässliche Karikatur.

Was erwarten Sie angesichts solcher Bilder von Justiz, Polizei und Politik?

Der politische Diskurs ist durch die sogenannten sozialen Medien leider sehr laut, schrill und extrem geworden. Es braucht eine Rückbesinnung. Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen die Herausforderungen konstruktiver und respektvoller diskutieren. Wir brauchen eine Koalition derer, die für Respekt einstehen, in den Zivilgesellschaften, den Religionen, in der Politik. Und ihr Signal muss deutlich sein: Genug ist genug! Kehrt zurück zu einem respektvollen und würdigen Dialog!

Rabbiner Pinchas Goldschmidt, 1963 in Zürich geboren, ist einer der weltweit angesehensten Rabbiner seiner Generation. Er ist seit 1993 Oberrabbiner von Moskau. Im Juli 2011 wurde er zum Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER) gewählt. Goldschmidt ist auch im interreligiösen Dialog engagiert und traf wiederholt, zuletzt im Oktober 2021, Papst Franziskus.