Vom Ruhestand hält er nichts. Ganz im Gegenteil. Martin Walser, inzwischen 91 Jahre alt, schreibt wie ein Besessener. In seinem neuen Buch "Spätdienst" zieht der berühmte Autor eine literarische Lebensbilanz.
Anzeige
Martin Walser und seine Literaturwelt
Er ist 95 Jahre alt und veröffentlicht weiterhin stetig Romane. Ein Blick auf Walsers literarischen Lebensstationen.
Bild: picture alliance/dpa/P.Seeger
Der Mann mit Hut
"Der Hut muss sein", sagt Walser. Wie beim Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe, den der Autor vom Bodensee sehr verehrt. Weich müsse er sein und aus warmen Filz, mit breiter Krempe. Im Sommer geht der bekannte Schriftsteller, der von sich selbst sagt, er sei in seiner Seele immer ein Kleinbürger geblieben, schon mal "oben ohne".
Bild: picture alliance/dpa/P.Seeger
Die Augenbrauen
Diese unglaublich eigensinnig wildwachsenden Haarbüschel! "Sonnenschutz" und "Deckung" für Walsers wache, aufmerksam jeden genau betrachtenden Augen. Alles nimmt er auf, vieles davon schreibt er in sein Notizbuch. Manches verewigt er akribisch in seinen Tagebüchern. "Schreiben und Leben" nennt er das.
Bild: picture alliance/Joker
Der Nachwuchsschriftsteller
Walser polarisiert in dem, was er schreibt, von Anfang an. Sein erster Roman "Ehen in Philippsburg" wird hoch gelobt. Der Dichter und Redakteur Karl Korn schreibt: "Der Walser zieht nicht, der trifft!" Das nächste Buch erntet einen Verriss: "Der Walser ist ein Genie der deutschen Sprache, aber es kommt nichts dabei raus", resümiert der Feuilleton-Chef der renommierten FAZ, Friedrich Sieburg.
Bild: picture alliance/Keystone
Der Preisgekrönte
Als der junge Walser seinen ersten Literaturpreis verliehen bekommt, setzt er gleich einen kulturpolitischen Pflock. Es sei töricht zu glauben, der Schriftsteller von heute könne die Gesellschaft von außen betrachten und kritisch beurteilen, merkt Walser an. "Er ist doch selber mittendrin." 1965 bekommt er den Schiller-Gedächtnis-Preis verliehen, hier mit Erich Fried (l.) und Max Frisch (2.v.r.).
Bild: picture alliance/dpa/Aßmann
Der Verleger
Walsers Hausverlag war lange Jahre Suhrkamp. Mit dessen Verleger Siegfried Unseld war er eng befreundet. Damals gehörte die Speerspitze der deutschen Intellektuellen zur Suhrkamp-Riege. Zum Bruch kam es 1998 nach seiner umstrittenen Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche, in der Walser eine "Instrumentalisierung des Holocausts" ablehnte und von "Auschwitz als Moralkeule" sprach.
Bild: picture-alliance/dpa/F.May
Der Bühnenkünstler
Eine Lesung mit dem berühmten deutschen Schriftsteller zu erleben - live und in Farbe - ist ein Erlebnis. Wortgewaltig, sprachgenau und ungemein witzig versteht Walser sehr genau, sein Publikum zu unterhalten. Und auf einmal erscheinen seine Texte nicht mehr so kompliziert und gewichtig, wie sie in den Büchern daherkommen.
Bild: picture-alliance/dpa/J.Woitas
Die Literatur-Großmeister
Dass "der andere" nicht mehr da ist, macht dem 95-jährigen Martin Walser zu schaffen. Günter Grass, der zweite berühmte deutsche Schriftsteller, war ihm ein wichtiger Widerpart. Beide streitbar und politisch wachsam, die Zeitläufte beobachtend. Jeder mischte sich auf seine Weise ein. Die meisten seiner literarischen Weggenossen habe er jetzt überlebt, merkt Walser melancholisch an.
Bild: picture-alliance/dpa/S.Stache
Der Querkopf
Unzählige Aufsätze und kurze Texte hat er geschrieben: Betrachtungen, Anmerkungen, gesellschaftskritisch, manchmal auch literarisch. Ein intellektuell geschulter Geist. Walsers Freude an der Polemik ist deutlich zu erkennen. Er trifft immer noch gern – manchmal Zeitgenossen oder auch in seinen Augen respektlose Journalisten. Dann wütet er mit dem Ingrimm des "Moralisten, der nicht anders kann".
Bild: AP
Die Schreibstube
Sein Arbeitszimmer liegt unter der Dachschräge seines Hauses am Bodensee. Unverändert seit Jahrzehnten: seine "Denkzelle". Dort lagert der Humus seines Schreibens, die altmodischen Regale sind vollgestopft mit Fundstücken, Selbstgeschriebenem und archiviertem Material. Alles wild durcheinander. Die ersten Fassungen seiner Bücher schreibt er bis heute mit der Hand.
Bild: picture-alliance/dpa/P.Seeger
Das Heimatdorf
Hier ist er verankert, hier ist Walsers liebstes Stück Deutschland: Wasserburg am Bodensee. Der viel gefragte Schriftsteller war schon immer viel unterwegs: auf Lesereise oder zu Tagungen. Im hohen Alter begleitet ihn seine Co-Autorin Thekla Chabbi, die ihm beim Sortieren seiner Gedanken und des Nachlasses hilft. Sie veröffentlichte auch seine Aufsatzsammlung "Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass".
Bild: picture-alliance/blickwinkel
Der Nachdenker
Nicht erst auf seine "alten Tage" beschäftigt sich der Autor Martin Walser mit philosophischen Fragen. Nach Gott und Glauben, nach Moral und politischer Verantwortung. Antworten vertraut er seinem Tagebuch an, Zuversichtliches gibt er gern in Interviews zum Besten: Deutschland und die Demokratie seien nicht in Gefahr durch Parteien wie die AfD: "Die sind armselig, im wahrsten Sinne des Wortes."
Bild: picture alliance/dpa/F. Kästle
Der weite See
Die Ruhe der Seenlandschaft gibt dem unermüdlichen Bücherschreiber Frieden. Am liebsten kehrt er von jeder Reise schnell dorthin zurück: in seine Heimat. Mit 95 kann Martin Walser auf ein gewaltiges Werk an Büchern und literarischen Erzeugnissen zurückblicken. Sein Schaffensdrang ist ungebrochen, Schreiben sein Lebenselixir.
Bild: picture alliance/dpa/P.Seeger
12 Bilder1 | 12
"Schreiben ist das Einzige, das ich von selbst tue, ohne dass ich muss", so die Aussage von Martin Walser, 91 Jahre alt, bei der Vorstellung seines neuen Buchs "Spätdienst" in Stuttgart. Schreiben sei für ihn eine Art "Lebensmittel", führt er weiter aus, es sei sozusagen eine Urgewohnheit, die für ihn schon früh "das Sprechen ersetzt" habe.
Martin Walser gilt als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller. Sein jüngstes Werk ist eine Art literarische Lebensbilanz: Kein Roman, sondern eine Ansammlung von Aphorismen, Gedanken und Gedichten. Lyrische und essayistische Texte, oft mit todtraurigem Unterton. Teile davon stammen aus Tagebüchern des Schriftstellers.
Ein großes Thema: die Auseinandersetzung mit dem Alter, ehrlich bis zur Schonungslosigkeit. "Ich muss darauf gefasst sein,/dass es sich hinzieht,/dass ich nicht mehr weiß,/was ich sage,/und in jeder Stunde,/bis zur letzten,/das Bett beschmutze."
Daneben geht es um die Liebe, um die Fehler des Lebens oder auch einfach um Wind, fallende Blätter und Mäusemist. Und natürlich kommt immer wieder auch das Thema hoch, das Walser von früh an umtrieb und verletzte und schließlich zu seinem umstrittensten Buch führte, dem Bestseller "Tod eines Kritikers" (2002): der Umgang der deutschen Literaturpäpste - allen voran des Literaturkritikers und Holocaust-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013) - mit seinem Werk. Das Buch löste schon vor seiner Veröffentlichung einen öffentlichen Streit aus und brachte Walser den Vorwurf des Antisemitismus ein.
Für einen Skandal sorgte er bereits ein paar Jahre zuvor, als er 1998 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in seiner Dankesrede die "Instrumentalisierung von Auschwitz" kritisierte. Seiner Meinung zufolge erreiche die ständige Thematisierung des Holocaust als "Moralkeule" den gegenteiligen Effekt. Eine Aussage, die eine hitzige Debatte nach sich zog.
Bestseller "Ein fliehendes Pferd"
Den großen Durchbruch schaffte Martin Walser Ende der 1970er Jahre mit seiner Novelle "Ein fliehendes Pferd". Mit über einer Million verkaufter Exemplare ist es sein erfolgreichstes Buch - und daher natürlich auch Teil des DW-Literaturprojektes "100 gute Bücher".
Sein neuestes Werk ist kein Buch, das man in einem Rutsch durchliest. Aber man kann es immer wieder einmal herausziehen und den großen alten Mann der deutschen Gegenwartsliteratur ein Stück weit bei seinem "Spätdienst" begleiten. Und jedes Mal von Neuem wieder darüber staunen, was er in dem denkwürdigen Gespräch mit seinem lange verheimlichten Sohn Jakob Augstein ("Das Leben wortwörtlich") einmal so formuliert hat: "Ich habe erfahren, dass durch Schreiben alles schön werden kann. Die Verzweiflung in Sprache ist eben schön."
pl/rbr (mit dpa / Munzinger Archiv)
Martin Walser: "Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung". Rowohlt Verlag 2018