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Politik

Ungarn: Vereint gegen Orbán

23. Dezember 2020

In Ungarn wollen die sechs wichtigsten Oppositionsparteien zur Parlamentswahl im Frühjahr 2022 gemeinsam antreten. Ihr Ziel: ein Ende des Orbán-Systems und ein "Epochenwechsel".

Viktor Orbán
Ungarns Premierminister Viktor OrbánBild: Olivier Hoslet/AP/picture alliance

Seit mehr als einem Jahrzehnt dominieren Viktor Orbán und seine Partei Fidesz Ungarns politische Landschaft mit erdrückender Übermacht. Orbán spricht ein ungewöhnlich breites Wählerspektrum von der Mitte bis tief ins rechtsextreme Milieu an. Wegen seiner etatistischen Wirtschaftspolitik ist er sogar für einstige Linkswähler interessant. Seit 2010 gewannen Fidesz und die ihr angeschlossene kleine Christdemokratische Volkspartei (KDNP) dreimal nationale Wahlen - jedes Mal mit Zwei-Drittel-Mehrheit.

Bisher konnten Ungarns Oppositionsparteien dieser Übermacht nichts entgegensetzen. Ja, mitunter wirkten sie schon in Vorwahlkämpfen gelähmt und resigniert. So sehr, dass Orbán bisweilen spöttelte, es schade seinem und Ungarns Image im Ausland, wenn die Opposition zu schwach sei - dann werde man noch öfter behaupten, er sei ein Diktator.

Budapests Oberbürgermeister Gergely Karácsony gehört zu den Hoffnungsträgern der ungarischen OppositionBild: AFP/A. Kisbenedek

Doch nun verkündet die ungarische Opposition Großes: Im Frühjahr 2022 will sie das System Orbán beenden und einen, wie sie es nennt, "Epochenwechsel" einleiten. Erstmals werden die sechs wichtigsten Oppositionsparteien bei einer Parlamentswahl zusammen antreten - mit einer gemeinsamen Wahlliste, gemeinsamen Direktkandidaten und einem gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Den Beschluss dazu fassten die sechs Parteien, deren Spektrum von links-progressiv über grün-liberal bis rechtsnational reicht, am vergangenen Sonntag (20.12.2020) nach langwierigen Gesprächen und Debatten.

"Garantien des Epochenwechsels"

Zugleich legten sie eine programmatische Erklärung vor, die eine Art Plattform der gemeinsamen politischen Nenner darstellt und gemeinsame Regierungsziele absteckt. Der Titel des äußerst ambitiösen Dokuments lautet: "Garantien des Epochenwechsels". Darin verpflichten sich die sechs Parteien, zur Wahl 2022 gemeinsam anzutreten und listen ihre wichtigsten Ziele auf: Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz und der Pressefreiheit, transparente Regierungsführung einschließlich der Offenlegung, wie Steuergelder ausgegeben werden, Verabschiedung einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes, Direktwahl des Staatspräsidenten und Öffnung der Akten ehemaliger Staatssicherheitsagenten und -informanten. Außerdem verspricht die Opposition, die tiefe politische Polarisierung der Gesellschaft zu beenden.

In Volkstracht zur Abstimmung: Wahlkabinen in BujakBild: picture-alliance/AP Photo/MTI/P. Komka

Der Beschluss der Opposition zum gemeinsamen Wahlantritt ist aus mehreren Gründen von überragender Bedeutung. Jahrelang waren die Oppositionsparteien untereinander tief zerstritten, immer wieder scheiterte ein gemeinsames Antreten zu Wahlen. Doch das von Orbáns Regierung seit 2010 stark geänderte Wahlsystem bevorzugt große Parteien oder Parteilisten und ist zum Teil speziell auf die Bedürfnisse von Fidesz zugeschnitten. Als "frei, aber unfair" bezeichnen deshalb viele ungarische Wahlrechtsexperten die Wahlen im Land. Unter diesen Bedingungen hat nur ein gemeinsamer Block eine Chance gegen die Orbán-Partei.

Orbán-Müdigkeit steigt

Diesmal bestehen wenig Zweifel daran, dass die Opposition auch tatsächlich gemeinsam antritt. Bereits bei den Lokalwahlen im Herbst vergangenen Jahres hatte sie das Modell in vielen Städten erfolgreich erprobt, darunter in der Hauptstadt Budapest, die seitdem wieder in Oppositionshand ist. Hinzu kommt: Erst kürzlich hat Orbáns Regierung eine weitere Wahlgesetzänderung verabschiedet, die es kleineren Parteien noch einmal deutlich erschwert, zur Wahl anzutreten. Damit wurde die Opposition praktisch gezwungen, sich zusammenzuschließen.

Jozsef Szájer hat nach der Teilnahme an einer illegalen Sexparty in Brüssel sein Mandat als Europaabgeordneter niedergelegtBild: Jean-Francois Badias/dpa/picture alliance

Der Beschluss kommt auch in einem strategisch günstigen Moment für die Opposition. In Ungarn macht sich inzwischen eine gewisse Orbán-Müdigkeit breit, manchmal wirkt der Premier, als habe er sein berühmtes Gespür für die gesellschaftliche Stimmung verloren. So etwa kommt seine immer aggressivere Europafeindlichkeit selbst bei einem Teil der Fidesz-Wähler nicht mehr gut an. Auch im Streit um den Rechtsstaatsmechanismus stellte Orbán sich Umfragen zufolge gegen eine Mehrheitsmeinung der Ungarn.

Viele Herausforderungen für die Opposition

Zudem schadete die kürzliche Szájer-Affäre Orbáns Partei gewaltig. József Szájer, Europaabgeordneter, prominenter Fidesz-Mitbegründer, Orbán-Freund und nach außen hin homophob, war auf einer wegen der Corona-Beschränkungen illegalen schwulen Sexparty in Brüssel mit Drogen erwischt worden. In den Augen vieler Ungarn war das ein Paradebeispiel für die Heuchelei von Fidesz-Politikern, die ohnehin verbreitet als korrupt gelten.

Dass die Opposition in einer solchen Situation mit dem Beschluss einer gemeinsamen Wahlliste und mit einer starken programmatischen Plattform an die Öffentlichkeit geht, dürfte ihr zusätzlich helfen, Wähler zu überzeugen. Dennoch steht das Oppositionsbündnis vor einigen schweren Problemen: Die größte Oppositionspartei, die nominell linke, tatsächlich aber ideologisch schwer einzuordnende "Demokratische Koalition" (DK) wird vom Ex-Premier Ferenc Gyurcsány angeführt. Er repräsentiert die korrupte und von politischen Skandalen geprägte sozialistisch-liberale Regierungszeit von 2002 bis 2010, die den Aufstieg von Fidesz überhaupt erst ermöglichte.Gyurcsány klebt beharrlich an seiner Rolle als graue Eminenz der Opposition und möchte seine ebenfalls nicht sonderlich beliebte Frau Klára Dobrev zur Kandidatin für das Ministerpräsidentenamt machen. Der weitaus geeignetere und populäre Kandidat, Budapests Oberbürgermeister Gergely Karácsony, sträubt sich bisher gegen eine Nominierung.

Klára Dobrev, Ehefrau des früheren Premierministers Ferenc Gyurcsány von der Demokratischen Koalition (DK)Bild: picture-alliance/AP Photo/MTI/b. Bodnar

"Durchleuchtung" von Kandidaten

Auch der Umgang mit der ehemals rechtsextremen Partei Jobbik ist eine große Herausforderung für die anderen Oppositionsparteien. Nominell rückte Jobbik schon vor Jahren von extremistischen Positionen ab und ordnet sich inzwischen dem gemäßigt rechtskonservativen Spektrum zu. Tatsächlich haben sich viele Jobbik-Politiker aber nicht glaubwürdig von ihrer Vergangenheit losgesagt.

Das zeigte sich kürzlich bei einer Lokalwahl in Ostungarn: Dort war der Jobbik-Politiker László Bíró als gemeinsamer Kandidat der Opposition angetreten und nicht zuletzt wegen einer Kontroverse um frühere antisemitische Sprüche gescheitert. Um solche Desaster künftig zu vermeiden, strebt das Oppositionsbündnis eine "Durchleuchtung" aller Kandidaten für die Wahl 2022 an - alle Oppositionspolitiker, die antreten, sollen daraufhin überprüft werden, ob sie wegen früherer Äußerungen oder anderer Affären angreifbar sind.

Insgesamt kann die Opposition aus jetziger Perspektive dennoch durchaus auf einen Wahlsieg hoffen. In Umfragen liegt das gemeinsame Bündnis derzeit tatsächlich leicht vor Fidesz. Der bekannte Politologe Gábor Török sprach deshalb davon, dass nun erstmals der Moment gekommen sei, in dem Orbán und seine Partei "beginnen können, sich Sorgen zu machen".