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Politik

Ungarn: Orbáns Parallelstaat

28. April 2021

Die Wahlen 2022 könnte Ungarns Premier verlieren. Nun sichert Viktor Orbán seine Macht: Unabhängige Stiftungen sollen nahezu alle staatlichen Aufgaben wahrnehmen - ausgestattet mit einem riesigen Vermögen.

Ungarn Budapest Parlament | Viktor Orban, Ministerpräsident
Ungarns Premier Viktor Orbán, hier bei einer Rede vor dem Parlament in Budapest im März 2020Bild: picture-alliance/AP Photos/MTI/T. Kovacs

Ungarns Premier Viktor Orbán ist einer der gewieftesten Machtpolitiker im gegenwärtigen Europa. Um seine Herrschaft zu sichern, hat er sich schon vieles einfallen lassen - von der Gleichschaltung der meisten Medien im Land bis hin zu einem Wahlgesetz, das seine Partei Fidesz begünstigt.

Orbáns jüngste Idee allerdings sprengt selbst den Rahmen des großenteils nur noch formaldemokratischen Regimes, das er in Ungarn aufgebaut hat: Ein Parallelstaat wird errichtet, der es dem Premier und seiner Führungselite ermöglicht, im Falle eines Regierungsverlustes in nahezu allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen an den Schalthebeln zu bleiben.

Protest gegen den Entzug der Unabhängigkeit der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst am 23.10.2020Bild: Attila Kisbenedek/AFP

Der Grund: In Ungarn herrscht zunehmend politische Wechselstimmung. Viele Menschen sind Orbán-müde und stören sich immer mehr an Selbstherrlichkeit und Korruptionsaffären im Familien-, Freundes- und Parteiumfeld des Premiers. Umfragen besagen schon seit Längerem, dass die vereinigte Opposition gute Chancen hat, Fidesz bei der Wahl im kommenden Frühjahr abzulösen.

Die Institution, die verhindern soll, dass eine nicht Orbán-geführte Regierung wirkliche Macht übernehmen kann, trägt einen ebenso harmlos klingenden wie umständlichen Namen: "Öffentliche Aufgaben verrichtende vermögensverwaltende Stiftung von öffentlichem Interesse". Am Dienstag (27.04.2021) stimmte das Parlament in Budapest mit Zwei-Drittel-Mehrheit für ein Gesetz über diese neuartige Institution und für die Schaffung von vorerst 32 derartigen Stiftungen.

Aufgaben aus nahezu allen staatlichen Bereichen

Die meisten von ihnen werden Träger staatlicher Universitäten - damit wird nahezu das gesamte staatliche ungarische Hochschulwesen in Stiftungen überführt, einschließlich der an sie gebundenen Institutionen wie etwa Universitätskliniken.

Angehöriger der ungarischer Minderheit in Rumänien bei einer Demonstration im November 2012Bild: picture-alliance/EPA/R. Ghement

Der kleinere, aber wesentlichere Teil der Stiftungen hat allgemeinen Charakter und ist mit Aufgaben aus nahezu allen staatlichen Bereichen betraut - von Bildung, Familie, Kunst, Jugend und Sport über Medienproduktion, Umweltschutz, Landwirtschaft und Wirtschaftsförderung bis hin zur Pflege internationaler Beziehungen und der Unterstützung ungarischer Minderheiten im Ausland.

Milliarden für einen tiefen Staat

Auf diese Weise sei garantiert, schreibt der Rechtsanwalt und ehemalige liberale Parlamentsabgeordnete András Schiffer, dass sich nach einem Regierungswechsel jede neue Regierung die Macht teilen müsse - mit einer "in der Verwaltung versteckten, tiefenstaatlichen parallelen Regierung, gelenkt von Viktor Orbán".

Ausgestattet sind die Stiftungen mit einem kaum zu beziffernden Milliardenvermögen: Neben Universitäten und deren Eigentum erhalten die neuen Einrichtungen auch Immobilien aller Art - von einfachen Gebäuden über Schlösser bis hin zu Parks und Wäldern - sowie Beteiligungen an staatlichen Unternehmen.

Keinerlei staatliche Aufsicht

Ein Beispiel ist das Matthias Corvinus Collegium (MCC), ursprünglich eine kleine, nicht allzu bedeutende Fidesz-nahe Kaderschmiede, gegründet von András Tombor, einem der einflussreichsten Orbán-Berater und Fidesz-Strippenzieher. Per Federstrich erhielt das MCC jeweils 10 Prozent Aktienanteile des Mineralölkonzerns MOL und des Pharmaunternehmens Gedeon Richter. Geschätzter Wert: umgerechnet etwa eine Milliarde Euro. Hinzu kommen wertvolle Immobilien und Grundstücke im ganzen Land sowie weitere Forint-Milliarden aus dem Staatssäckel.

Eine Tankstelle des ungarischen Mineralölkonzerns MOLBild: Mol

Die Stiftungen arbeiten eigenständig und unterstehen keinerlei staatlicher Aufsicht. Ausgeben dürfen sie ihr Geld zwar nur für den vorgesehenen Zweck - doch wie sie das konkret tun, bleibt ihnen überlassen. Ein bereits im Dezember vergangenen Jahres verabschiedeter Verfassungszusatz ermöglicht Änderungen an Arbeits- und Funktionsweise nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Parlamentsabgeordneten. Dass die Opposition diese in absehbarer Zeit erhält, gilt als äußerst unwahrscheinlich.

Minister, Staatssekretäre, Orbán-nahe Geschäftsleute

Geleitet werden die neuen Institutionen von Kuratorien, deren Mitglieder bei Stiftungsgründung von der Regierung ernannt werden - auf unbefristete Zeit. Später Nachfolgende ernennt die Kuratorien selbst. Unter den bereits jetzt bekannten Kuratoren sind Minister, Staatssekretäre und zahlreiche Orbán-nahe Geschäftsleute.

Die Regierung erklärt die Notwendigkeit des neuen Stiftungsmodells damit, dass staatliches Engagement im 21. Jahrhundert neu gedacht werden und öffentliche Aufgaben effizienter erfüllt werden müssten - so der Begründungstext für das neue Gesetz.

"Dimension kommunistischer Verstaatlichung"

Ungarns vereinter Oppositionsblock hingegen, zu dem sich Ende vergangenen Jahres die sechs wichtigsten Oppositionsparteien zusammengeschlossen haben, spricht von "räuberischer Privatisierung" und "Diebstahl". "Wir verurteilen es auf das Entschiedenste, dass das Regime sich hinüberretten will und öffentliches Vermögen und Steuergeld in Fidesz-Privathände überträgt", schreiben sie in einer Stellungnahme.

Miklós Ligeti, der Direktor von Transparency International Hungary, bezeichnet das neue Stiftungsmodell als eine der schwerwiegendsten Maßnahmen, seit Orbán 2010 mit Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht kam. "Das Ganze ist eine geschickte, aber bösartige Idee, die sich in ihrer Dimension nur mit der kommunistischen Verstaatlichung vergleichen lässt", sagt Ligeti der DW. "Und es geht um ein absolut einmaliges Modell, das es in dieser Form nirgendwo sonst gibt, nicht in westlichen Demokratien, weil dort rechtsstaatliche Grundsätze gelten, und nicht in östlichen Diktaturen, weil man dort nicht auf Formalitäten achtet."

Die ungarischen Oppositionsparteien versprechen, dass sie die neuen Stiftungen im Falle eines Wahlsieges abschaffen und ihr Vermögen wieder dem Staat zurückgeben werden - und damit der Öffentlichkeit. Miklós Ligeti sagt, dazu bedürfe es eigentlich einer "rechtsstaatlichen Revolution". "Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, wäre eine Berufung auf Artikel C, Absatz 2 des ungarischen Grundgesetzes." Der enthält eine Klausel gegen Diktatur und Willkürherrschaft: "Jeder ist berechtigt und verpflichtet, gegen solche Bestrebungen auf gesetzlichem Wege vorzugehen."

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