1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Schluss mit der Einstimmigkeit? Die EU und Ungarns Blockaden

23. September 2025

Vor allem in der Ukraine-Politik der EU legt Ungarn immer wieder sein Veto ein oder droht damit. Das erschwert eine gemeinsame Außenpolitik. Einige Mitgliedstaaten suchen nach Auswegen. Doch wie vielversprechend ist das?

Orban spricht in bereitgestellte Mikrofone, im Hintergrund sind Flaggen der EU-Mitgliedsländer zu erkennen.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban vor dem EU-Gipfel im Juni 2025. Sein Land droht oft mit Vetos im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Bild: Omar Havana/AP/picture alliance

Das Verlassen des Raumes für eine "Kaffeepause", komplizierte juristische Konstrukte für die Verwendung von Zinserträgen aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten, Abschlusserklärungen der Staats- und Regierungschefs ohne den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban - solche Beispiele zeigen, wie die EU einige Entscheidungen ohne Ungarn oder an Ungarn vorbei treffen musste.

In der Außen- und Sicherheitspolitik wird dies jedoch zunehmend schwieriger. Sanktionspakete gegen Russland etwa, mittlerweile ist das 19. davon in Verhandlung, müssen von allen Mitgliedstaaten gebilligt werden. Auch in der Steuerpolitik, oder wenn es um die Aufnahme neuer EU-Mitglieder geht, kann ein einzelner Staat mit seinem Veto jeden Beschluss verhindern.

Das sei "moralisch auch nicht verwerflich", sagt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gegenüber der DW. Schließlich gehe es bei solchen Themen um "Kernbereiche nationaler Souveränität". Und bei ihren Eigeninteressen würden Staaten ungern überstimmt, erklärt der Politikwissenschaftler, der bei der SWP die Forschungsgruppe EU leitet. Bei Deutschland sei dies beispielsweise bei der EU-Israelpolitik der Fall. 

Problematisch findet Ondarza, dass es Ungarn oft nicht um die Sache an sich gehe. Dann nutze das Land sein Vetorecht, um die Mitgliedstaaten in anderen Fragen zu "erpressen". 

Der ungarische Ministerpräsidentin Viktor Orban gemeinsam mit dem spanischen Premier Pedro Sanchez und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi in Granada im Oktober 2023. Bild: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Im EU-Jargon wird dies als "taktisches Veto” bezeichnet. Gerade in der Ukraine-Politik der EU blockiert Orban häufig. So können Ukraine-Hilfen in Höhe von rund 6,6 Milliarden Euro aus der Europäischen Friedensfazilität nach wie vor nicht ausgezahlt werden. Auch gegen Fortschritte bei einem möglichen EU-Beitritt der Ukraine stellt sich das Land. Ungarn führt unter anderem die Befürchtung an, die EU könnte dadurch in einen Krieg mit Russland gezogen werden. Allerdings hatte die Regierung Orban bei allen bislang verabschiedeten 18 Sanktionspaketen gegen Russland am Ende doch zugestimmt.

Selten käme es einmal vor, dass auch andere Mitgliedstaaten diese Taktik nutzten, sagt Politikwissenschaftler von Ondarza. So habe etwa Zypern 2020 Sanktionen gegen Belarus blockiert, um ein härteres Vorgehen gegen die Türkei zu erzielen.

Außenminister wollen Arbeitsmethoden diskutieren

Die EU habe ein verfassungsrechtliches Problem, sagte der dänische Außenminister Lars Løkke Rasmussen bei einem informellen Treffen kürzlich in Kopenhagen: "Das langsamste Schiff in der Kolonne bestimmt die Geschwindigkeit. Und wir sollten Wege finden, damit sich die Mehrheitsposition in Europa durchsetzen kann." Die EU sollte deshalb nach "innovativen Lösungen" suchen.

Wie solche Arbeitsmethoden aussehen könnten, wurde bei dem Treffen Ende August jedoch nicht diskutiert. Dies solle "definitiv" in den nächsten Monaten geschehen, sagte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas. Es handle sich um eine "Frage der Glaubwürdigkeit" für die EU.

Der dänische Außenminister Lars Løkke Rasmussen mit der Außenbeauftragten Kaja Kallas bei einem informellen Treffen der EU-Außenminister in Kopenhagen Ende August. Bild: Emil Helms/Ritzau Scanpix/REUTERS

"Freundesgruppe" will weniger Einstimmigkeit

Bereits im Jahr 2023 gründete sich auf eine deutsche Initiative hin die "Freundesgruppe für verbesserte Entscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik". Nach Angaben des EU-Rates machen bereits zwölf Staaten mit. Neben Deutschland sind das Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Rumänien, Slowenien, Spanien und Schweden.

Die "Freundesgruppe" hat beispielsweise vorgeschlagen, Sanktionsentscheidungen, Erklärungen zu menschenrechtlichen Fragen oder den Einsatz ziviler Missionen mit einer qualifizierten Mehrheit zu beschließen. Diese liegt vor, wenn mindestens 15 Mitgliedstaaten zustimmen, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Es soll auch eine Art Sicherheitsnetz für wesentliche nationale Interessen der Mitgliedstaaten geben. Vorschläge wie diese müssten jedoch alle 27 EU-Staats- und Regierungschefs absegnen.

Nach Aussage eines EU-Diplomaten wollen einige Staaten innerhalb dieser Gruppe die Debatten auf die Steuerpolitik erweitern, um auch dort das Prinzip der Einstimmigkeit zu lockern. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sich in ihrer Rede zur Lage der EU Anfang September ebenfalls dafür aus, die eigenen Entscheidungsprozesse zu reformieren, um Blockaden zu vermeiden. In einigen Gebieten sollte sich die EU von "den Fesseln der Einstimmigkeit" unter den 27 Mitgliedstaaten befreien, forderte sie. 

Vertragsänderung möglich, aber unwahrscheinlich

Eine weitere Möglichkeit, das Prinzip der Einstimmigkeit in der EU aufzuweichen, sei eine Änderung der EU-Verträge, etwa im Rahmen der Aufnahme eines neuen Mitgliedstaates, so von Ondarza. Auch dafür brauche es das Einverständnis aller 27 Mitgliedstaaten. Eine solche Zustimmung hält der Politikwissenschaftler derzeit für "politisch unwahrscheinlich". 

Sollten die Mitgliedstaaten allerdings ihre Freundesgruppe weiter vergrößern, könnten sie mehr Druck auf die übrigen Staaten aufbauen, um die Mehrheitsentscheidung dann zu einem späteren Zeitpunkt durchzusetzen. Allerdings, so von Ondarza, müsste man Ungarn wohl auch in der Zukunft einen sehr hohen Preis zahlen, damit es das mächtige Faustpfand aus der Hand gebe. 

Auch in Brüssel wird die Freundesgruppe als Mittel gesehen, um Druck aufzubauen, wie der EU-Diplomat der DW sagte. Ungarn sei zunehmend isoliert. Derzeit arbeitet die EU-Kommission an einem Plan, um die eingefrorenen russischen Vermögenswerte zum Wiederaufbau der Ukraine nutzen zu können. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, sucht die Kommission dabei von vorneherein nach Möglichkeiten, um ein ungarisches Veto zu umgehen.

Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen