Tod eines Rekruten in der Ukraine facht Orbans Hetze an
14. Juli 2025
Erst vor Kurzem endete in Ungarn eine mehrmonatige Kampagne gegen die Ukraine und ihren angestrebten EU-Beitritt. Ungarns autokratischer Ministerpräsident Viktor Orban und sein Apparat stellten das Nachbarland dabei als einen Mafiastaat voller krimineller und gemeingefährlicher Horden dar, die ungarische Menschen ausrauben, kidnappen und töten würden.
Wer glaubte, der Tiefpunkt von Orbans Propaganda sei damit erreicht, sieht sich nun getäuscht. Die ungarische Staatsführung hat den Tod eines ungarischstämmigen Rekruten in der Ukraine am 6. Juli zu einem kollektiven Angriff auf die ungarische Nation stilisiert und die Ukraine zu einer Art Reich des Bösen erklärt - obwohl die Todesumstände des Rekruten unklar sind. Orban behauptet: "In der Ukraine wurde ein ungarischer Staatsbürger totgeschlagen." Er wirft der Ukraine und der EU vor, das angebliche Verbrechen zu vertuschen - ohne jegliche Belege. Auf schwarzem Hintergrund schreibt er auf Facebook: "Die Wahrheit kann man nicht verschweigen."
Regierungsnahe Medien in Ungarn veröffentlichten hunderte hochemotionaler Beiträge zum Tod des Rekruten. Der ukrainische Botschafter in Budapest, Sandor Fegyir, wurde einbestellt - ein in der Diplomatie unmissverständliches Zeichen des Zorns. Vor der ukrainischen Botschaft in Budapest demonstrierten unter der Führung von Orbans Chefpropagandisten Zsolt Bayer hunderte wütende Menschen.
Todesumstände sorgen für Empörung
Ungarns Staatspräsident Tamas Sulyok sandte seinerseits einen Brief an die Eltern des toten Rekruten und schrieb, er sei "vollkommen entsetzt darüber, was er über die Todesumstände Ihres Sohnes gehört" habe. "So etwas" dürfe in Europa nicht geschehen, es widerspräche "allen menschlichen Werten".
Was ist nun eigentlich passiert? Es geht um einen 45-jährigen Mann namens Jozsef Sebestyen aus der Stadt Berehowe in der ukrainischen Region Transkarpatien, wo knapp 100.000 ethnische Ungarn leben. Berehowe, 23.000 Einwohner, rund die Hälfte davon ethnische Ungarn, liegt wenige Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt. Sebestyen, Betreiber einer Pension, hatte neben der ukrainischen auch die ungarische Staatsbürgerschaft, so wie viele Ungarn in Transkarpatien.
Wie die meisten ukrainischen Bürger im wehrfähigen Alter wurde er nach Beginn des vollständigen Kriegs im Februar 2022 bei der ukrainischen Militärverwaltung (TZK) registriert. Mitte Juni geriet er in Berehowe in eine Straßenkontrolle von TZK-Mitarbeitern, wurde mobilisiert, für wehrtauglich befunden und zu einer Grundausbildung geschickt. Am 6.07.2025 starb er in einem psychiatrischen Krankenhaus in Berehowe. Das sind gesicherte Fakten - über alles Weitere gehen die Darstellungen auseinander und sind nicht gesichert.
Videos unklarer Herkunft
Am Abend des 9. Juli veröffentlichte das regierungsnahe ungarische Portal Mandiner einen Bericht, der behauptet, Jozsef Sebestyen sei mit Eisenstangen so schwer geschlagen worden, dass er daran später gestorben sei. Der Bericht beruft sich auf einen Facebook-Post von Sebestyens Schwester Marta, der jedoch nicht oder nicht mehr existiert. Eine Anfrage der DW dazu beantwortete Marta Sebestyen nicht. Die Mandiner-Redaktion reagierte auf eine DW-Anfrage mit einem Artikel, in dem es heißt, man lasse "keine Bagatellisierung" des Themas zu.
Später veröffentlichte Mandiner auch Videos, die Jozsef Sebestyen nach der Misshandlung zeigen sollen. In einem Video ist zu sehen, wie er auf einer Wiese kniet und Sanitäter und Personen in Militärkleidung ihn befragen. Verletzungen sind nicht zu erkennen, nach einer Weile lässt sich Sebestyen ins Gras fallen. In zwei anderen Videos kriecht er auf einem Gelände, das ein Ausbildungslager sein könnte, auf allen Vieren. Er macht einen verwirrten, erschöpften Eindruck. Gewalt gegen ihn ist nirgendwo zu sehen.
Es ist unklar, wer die Videos aufgenommen hat. Doch sie kursieren inzwischen tausendfach in Ungarn und werden in regierungsnahen Medien, etwa im Nachrichtenprogramm der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt MTVA, immer wieder gezeigt - als Beleg für die Grausamkeit des ukrainischen Militärs.
Armee bestreitet Misshandlung
Die MTVA-Nachrichtensendung Hirado zeigt in ihren Berichten auch ein Video eines Mannes in einem Krankenhaus, wahrscheinlich auf einer Intensivstation. Es ist nachträglich mit den Worten beschriftet, dass es Sebestyen "im Krankenhaus kurz vor seinem Tod" am 6 Juli zeige. Die DW konnte das Video jedoch einem ukrainischen Telegram-Kanal zuordnen, auf dem es bereits am 22.5.2025 veröffentlicht worden war. Laut dem Kanal-Betreiber, Witalyj Glagola, zeigt das Video einen anderen Mann. Es werde von ungarischen Medien missbräuchlich verwendet, so Glagola zur DW. Auch Viktor Orban benutzt dieses Video auf seinem TikTok- und Social-Media-Accounts.
Auch ein weiteres Video von Glagolas Kanal vom 22.5.2025 verwendet Hirado missbräuchlich. Die Rundfunkanstalt MTVA reagierte auf eine schriftliche Anfrage der DW bis zur Veröffentlichung nicht. Auch das ungarische Regierungsamt für Kommunikation reagierte nicht auf Anfragen der DW.
Das Kommando der ukrainischen Landstreitkräfte bestreitet in einer Mitteilung vom 10.7.2025 jegliche Misshandlung Sebestyens. Er sei am 15.6.2025 zu einer Ausbildungseinheit gebracht worden und von dort drei Tage später desertiert. Am 24.06.2025 habe er sich im Kreiskrankenhaus Berehowe mit Beschwerden gemeldet, von dort aus sei er in eine psychiatrische Klinik überwiesen worden, wo er am 6.07.2025 an einer Lungenembolie verstarb, "ohne Anzeichen von Verletzungen, die auf Gewalt hinweisen könnten".
"Trianon-Trauma" als großes Thema
Das ukrainische Außenministerium beschuldigt Ungarn, den Fall Sebestyen in "manipulativer Weise und zu politischen Zwecken" auszunutzen. Tatsächlich behauptet Viktor Orban nicht nur, dass "in der Ukraine ein Ungar totgeschlagen wurde", sondern fügt hinzu, dass "ein solches Land nicht Mitglied der EU werden darf". Es geht also um die Fortsetzung der Kampagne gegen die EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Deren Erfolg war trotz massiver Propaganda eher mäßig.
Der Fall Sebestyen ist jedoch anders gelagert. Denn für viele Ungarn spielen die Belange der Auslandsungarn in den Nachbarländern eine große emotionale Rolle. Orbans Regime hat das jahrzehntelang als Tabu behandelte "Trianon-Trauma" wieder zu einem großen Thema gemacht und stößt damit auf vielfache Resonanz. Der Hintergrund: Ungarn verlor nach dem Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Territoriums und seiner Bevölkerung. Derzeit leben rund zwei Millionen ethnische Ungarn in Ungarns Nachbarländern. Zwar reagieren viele Ungarn auf den Fall Sebestyen mit Betroffenheit. Ob die Kampagne allerdings die inzwischen verbreitete Orban-Müdigkeit in Ungarn aufhalten kann, muss sich erst noch zeigen.