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Politik

Orbán gegen den Rest Europas

12. November 2020

Ungarns Premier Viktor Orbán will ein Veto gegen das EU-Haushaltspaket und den Corona-Wiederaufbaufonds einlegen. Grund ist der geplante Rechtsstaatsmechanismus, der die Verletzung von EU-Grundwerten sanktionieren soll.

Brüssel I Viktor Orban und Ursula von der Leyen
Viktor Orbán und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel (24.09.2020)Bild: Dursun Aydemir/AA/picture-alliance

Monatelang wurde in der Europäischen Union darüber gestritten. Schließlich gab es einen Kompromiss, der auf eine Initiative der deutschen EU-Diplomatie zurückging: Die Rede ist vom sogenannten Rechtsstaatsmechanismus, mit dem die Europäische Union Mitgliedsländer finanziell sanktionieren kann, wenn sie gegen rechtsstaatliche Normen und Grundwerte der Union verstoßen. Verabschiedet werden soll der Mechanismus zusammen mit dem neuen EU-Haushalt und dem Corona-Wiederaufbaufonds, über die sich eine Mehrheit der EU-Länder dieser Tage nach monatelangem Streit einigte.

Ungarn und Polen, die der Anlass dafür waren, dass die EU überhaupt eine Debatte um den Rechtsstaatsmechanismus begann, stemmten sich von Anfang an heftig dagegen. Entgegen ursprünglicher Pläne wurde der Mechanismus deshalb deutlich entschärft - nach jetzigem Stand bedarf es der Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit von fünfzehn Mitgliedsstaaten mit zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung, damit die EU-Kommission Sanktionen gegen ein Land verhängen kann. Eine nicht unbeträchtliche Hürde.

Doch auch dieser Kompromiss geht einem zu weit: Viktor Orbán. Er stellte in Aussicht, dass Ungarn deshalb sein Veto gegen den neuen EU-Haushalt einlegen werde. In einem Brief an den EU-Ratspräsidenten Charles Michel, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die amtierende deutsche EU-Ratspräsidentschaft, der am vergangenen Sonntag öffentlich wurde, schrieb Orbán, dass Ungarn zum EU-Haushaltspaket "keine Einstimmigkeit liefern" könne. Orbán kritisierte den geplanten Rechtsstaatsmechanismus als "vage definiert". Daher biete er die Möglichkeit zu politischem Missbrauch.

Politiker, die "Soros aus der Hand fressen"

Bereits zwei Tage zuvor hatte sich Orbán in ähnlicher Weise in seinem wöchentlichen Radio-Statement geäußert. Er verstieg sich dabei auch zu Verschwörungstheorien: Der Rechtsstaatsmechanismus sei eine Idee des US-Börsenmilliardärs George Soros. Dieser habe bereits vor Jahren vorgeschlagen, EU-Staaten finanziell zu sanktionieren, wenn sie keine Migranten akzeptieren wollten. Politiker, die Soros "aus der Hand fressen", hätten dessen Plan nun umgesetzt, so Orbán.

"Sie haben ein Recht darauf, zu wissen, was Brüssel vorhat" - Kampagne gegen George Soros und den damaligen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker (Budapest, Februar 2019)Bild: picture-alliance/dpa/P. Gorondi

Möglicherweise kann Ungarns Premier bei seinem Veto auch auf Polen zählen. Dort hatte der Premier Mateusz Morawiecki in der vergangenen Woche angekündigt, nicht für den Rechtsstaatsmechanismus stimmen zu wollen. Morawiecki hatte jedoch nicht von einem Veto gegen das gesamte EU-Haushaltspaket und den Corona-Wiederaufbaufonds gesprochen.

Sollte Orbán seine Ankündigung wahr machen, dann würde die Europäische Union in eine neue ernsthafte Krise stürzen - mitten in der zweiten Welle der Corona-Pandemie, deren schwerwiegendes Ausmaß noch nicht abzusehen ist. Bislang ist unklar, ob Brüsseler und Berliner Diplomaten einen weiteren Kompromiss mit Orbán suchen. Einen Weg für ein EU-Haushaltspaket ohne Ungarn gibt es jedenfalls nicht. Beschließen könnte eine Mehrheit der EU-Staaten lediglich einen separaten Corona-Wiederaufbaufonds.

Neue Dekret-Regierung

Dass Orbán und seine Regierung jedoch nicht zu Kompromissen bereit sind und auch generell keine Abstriche an der antidemokratischen Umgestaltung Ungarns machen wollen, zeigen sie derzeit in aller Deutlichkeit. Am Dienstag (10.11.) votierte das ungarische Parlament - wie schon im Frühjahr - erneut dafür, Orbán und seine Regierung wegen der Corona-Pandemie mit Sondervollmachten auszustatten, diesmal allerdings befristet auf 90 Tage, weshalb auch der größte Teil der Opposition seine Zustimmung gab. Orbán kann in diesem Zeitraum nun per Dekret regieren. Im Frühjahr hatte das genutzt, um zahlreiche Anordnungen zu erlassen, die nichts mit der Pandemie-Bekämpfung zu tun hatten, sondern gegen die Opposition gerichtet waren oder ihm nahestehende Geschäftsleute begünstigten.

Kurz nach der Abstimmung legte seine Regierung den Plan für eine weitere Verfassungsänderung vor - die neunte innerhalb von neun Jahren. Für große öffentliche Aufregung sorgte dabei eine geplante homophobe Ergänzung des ungarischen Grundgesetzes. Nun soll in einem auf Ehe und Familie bezogenen Artikel der Zusatz stehen: "Die Mutter ist eine Frau, der Vater ein Mann."

Freie, aber unfaire Wahlen

Tatsächlich fallen Orbán und andere ungarische Regierungspolitiker immer wieder mit teils äußerst diskriminierenden homophoben Äußerungen auf, die beispielsweise Homosexuelle als Pädophile einstufen oder ihnen die Gleichberechtigung mit "normalen" Bürgern absprechen.

Erste Sondervollmachten für die Orbán-Regierung beschloss das ungarische Parlament bereits im März 2020Bild: picture-alliance/AP/MTI/Z. Mathe

Möglicherweise geht es aber bei dieser Verfassungsergänzung eher darum, dass ein anderer Passus angesichts der öffentlichen Aufregung weniger auffällt. Der legt fest, dass sämtliche Bestimmungen zu öffentlichen Stiftungen und ihrem Vermögen vom Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen werden müssen. Dies könnte eine Art Sicherheitsmechanismus für undurchsichtige Entscheidungen der Orbán-Regierung zu solchen Stiftungen sein. So etwa hatte das Mathias Corvinus Collegium, eine Art Elite-Kaderschmiede des Orbán-Systems, kürzlich in völlig intransparenter Weise ein staatliches Milliardenvermögen zugeschustert bekommen, unter anderem in Form von Aktien und Immobilien.

Ebenfalls am Dienstag - exakt eine Minute vor Mitternacht - brachte Orbáns Regierung eine Wahlgesetzänderung ins Parlament ein. In Ungarns gemischtem Wahlrecht mit Direktkandidaten und Parteilisten stärkt sie die einzige große Partei - Orbáns Fidesz - und schwächt die Ausgangsposition kleinerer Parteien noch weiter als bisher. Unter anderem müssten Parteien künftig in 50 statt wie bisher 27 Wahlkreisen Einzelkandidaten aufstellen, um das Recht zu haben, auch mit einer Parteiliste anzutreten. Damit würde noch deutlicher werden, was unabhängige ungarische Wahlexperten seit langem kritisieren: Wahlen sind in Orbáns Ungarn zwar noch frei, aber ihre Ausgangsbedingungen immer unfairer.