Wie weiter nach Orbans Blockade?
7. Dezember 2022Am Tag danach bekräftigte das Büro von Premierminister Viktor Orban, die ungarische Blockade der EU-Ukrainehilfe habe absolut nichts mit Erpressung zu tun. "Ungarn ist bereit, die Ukraine bilateral finanziell zu unterstützen"; wird ein Tweet des Regierungschefs nach dem Treffen der Finanzminister zitiert. "Es gibt kein Veto und keine Erpressung". Der Premierminister wolle die EU-Mitgliedsländer davon überzeugen, dass gemeinsames Schuldenmachen in dieser Situation nicht die Lösung sei. "Wenn wir auf dem Weg nach unten als Schuldengemeinschaft weitermachen, gibt es keinen Weg zurück", so Orban.
Ungarn verweigert mehrere Projekte
Faktisch, so Kritiker, sei es allerdings durchaus Erpressung, wenn wichtige EU-Vorhaben blockiert würden, nur weil ein Mitgliedsland eigene Anliegen durchdrücken will. Und Ungarn treibt die Kunst zu neuer Blüte: Seit Monaten schon verweigert die Regierung die Zustimmung zur globalen Mindeststeuer, hält die Ratifizierung der NATO-Erweiterung um Finnland und Schweden auf und blockiert schließlich das Hilfspaket für die Ukraine.
Er bedauere die Entscheidung im Rat der Finanzminister, schreibt Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovkis: "Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie verzweifelt die Lage ist. Wir müssen im nächsten Monat eine erste Zahlung leisten, damit die Ukraine den Winter überleben kann. Es gibt keine Alternative - wir werden einen Weg finden".
Grund für die Blockadehaltung Ungarns ist, dass die EU-Kommission 7,5 Milliarden der regulären EU-Beihilfen und darüber hinaus 5,8 Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbau Fonds eingefroren hat. Als Begründung führt die EU gravierende Mängel bei der Rechtsstaatlichkeit an, wie sie seit Jahren in zahlreichen EuGH-Urteilen gegen das Land festgestellt wurden. Die Kommission forderte daher zuletzt eine Reihe von Reformen. Viktor Orban behauptet, er habe sie auch umgesetzt. Allein: In Brüssel fehlt der Glaube, dort halten sie die ungarischen Maßnahmen für leere Versprechen.
Zu den Forderungen gehörten die Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz, Änderungen im öffentlichen Vergabeverfahren, ein Amt gegen Korruption und vieles mehr. Journalisten in Ungarn allerdings beobachten derweil ständig neue Verstöße gegen EU-Regeln:
"Während Ungarn versucht, der EU-Kommission neue Anti-Korruptionsmaßnahmen zu verkaufen, um EU-Mittel freizugeben, hat Orbans Schwiegersohn Istvan Tiborcz gerade 380.000 Euro aus EU-Geldern bekommen. Tiborcz und sein Vater haben insgesamt 3,2 Millionen für 'ländliche Entwicklung' erhalten", kritisiert der Journalist Szabolcs Panyi auf Twitter.
Was kann die EU ohne Ungarns Zustimmung tun?
Das Europaparlament hat Ungarn sogar den Status einer Demokratie abgesprochen und fordert, die finanziellen Sanktionen aufrecht zu erhalten. Der haushaltspolitische Sprecher der Grünen erklärt: "Wir sind leider an einem Punkt angelangt, an dem die EU-Kommission Alternativen für die Finanzierung der Ukraine vorbereiten muss. (…) Kurzfristig könnten wir die Nothilfe-Reserve über den EU-Haushalt nutzen. Damit kann sich die EU Zeit erkaufen. Insgesamt sind die Instrumente im Haushalt allerdings nicht gut genug ausgestattet. Die Mitgliedsstaaten könnten alternativ einen gemeinsamen Fonds auflegen und aus den nationalen Haushalten Zuschüsse zahlen".
Finanzielle Entscheidungen können in der EU weiter nur einstimmig getroffen werden. Und eine Umgehung ist nicht einfach. Die 26 übrigen Mitgliedsländer könnten im Prinzip untereinander verabreden, die 18 Milliarden für die Ukraine gemeinsam zu leihen. Allerdings hieße das, alle müssten jeweils die finanzielle Garantie für ihren Anteil übernehmen. Einige Mitgliedsländer sagen, sie hätten dafür nicht mehr die nötige Luft in ihren Haushalten. Andere befürchten Schwierigkeiten in den nationalen Parlamenten. Eine solche Anleihe wäre außerdem teurer als eine Lösung im EU-Rahmen und langwieriger. Weil es Zeitdruck gibt, könnte die Europäische Investitionsbank mit einem Überbrückungskredit einspringen.
Einfacher wäre es wohl, zunächst die Nothilfereserve aus dem EU-Haushalt für die Ukraine zu verwenden, die durch Umschichtungen auch über den normalen Haushaltsrahmen hinaus ausgedehnt werden könnte. Generell ist die EU für solche Notfälle in ihren Verträgen aber schlecht gerüstet, auch weil darin Strafmaßnahmen gegen Mitgliedsländer fehlen, die nicht nach den Regeln spielen.
Auf der Suche nach einem Kompromiss
Deutschland und Frankreich sollen sich hinter den Kulissen für einen Kompromiss zwischen der Kommission und Ungarn einsetzen. Eine neue Bewertung der Reformschritte in Ungarn könnte doch vielleicht die Blockade lösen und zur Freigabe der Gelder führen, so ihr Vorstoß. Es wird auch befürchtet, dass es beim Gipfel in der nächsten Woche keine qualifizierte Mehrheit für die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Ungarn im Rahmen des sogenannten Rechtsstaatlichkeits-Mechanismus geben könnte. Das wäre eine dramatische Blamage und das Ende des Versuchs, Mitgliedsländern Grenzen zu setzen.
Zur Gruppe der Hardliner gehören hier die Niederlande. "Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem Spiel", sagte Finanzministerin Sigrid Kaag für den Fall, dass die Ukrainehilfe nicht fließen könne. Sie nennt das Verhalten Ungarns "mehr als bedauerlich" und stellt darüber hinaus fest, dass die Rechtstaatlichkeit im Land längst zu weit demontiert worden sei. Die Niederlande wollten nicht für eine Freigabe der Mittel für Budapest stimmen.
In einem Brandbrief haben Menschrechtsorganisationen unter Führung der Anti-Korruptions-NGO "Transparency International" jetzt an den EU-Ministerrat appelliert, Ungarn gegenüber nicht klein beizugeben. "Im letzten Jahrzehnt hat die ungarische Regierung die Gerichte unter Kontrolle gebracht, die Medienfreiheit unterminiert, Nicht-Regierungs-Gruppen dämonisiert und teilweise kriminalisiert, die akademische Freiheit beschnitten, und die Rechte von Migranten, Frauen und LGBTQ-Bürgern verletzt, während sie gleichzeitig Geld von der EU bekam."
Die Organisationen fordern, Ungarn weiter zu überwachen und dafür zu sorgen, "dass EU-Geld für den richtigen Zweck ausgegeben wird und ungarische Bürger davon profitieren, statt den Interessen der Elite zu dienen und Rechtsverstöße zu zementieren". Die EU dürfe keine Regierungen mehr finanzieren, die ihre Rechte ständig verletzten, heißt die Schlussfolgerung. Beiden Seiten aber läuft die Zeit davon: Die EU muss innerhalb weniger Wochen das Geld für die Ukraine organisieren. Und Ungarn droht, dass Teile der Corona-Mittel verfallen, wenn sie bis zum 19. Dezember nicht freigegeben sind.