Wahlkampfbeginn in Ungarn: Referendum über Orban
28. Juli 2025
In Ungarn herrscht in den Sommermonaten gewöhnlich "Sauregurkenzeit" - so nennen ungarische Medien das politisch ereignisarme Sommerloch. Einzig bedeutsam ist in dieser Zeit normalerweise Viktor Orbans jährliche programmatische Rede Ende Juli im siebenbürgischen Bad Tuschnad (Baile Tusnad). Dort verkündet Ungarns Premier oft weitreichende Entscheidungen wie 2014 den Aufbau eines "illiberalen Staates".
In diesem Jahr jedoch gibt es bisher keinen sommerlichen Nachrichtenmangel. Außenpolitisch gießt Orbans Regierung seit Wochen immer wieder Öl ins Feuer einer antiukrainischen Kampagne. An der Kulturfront machen Orbans Propagandisten fast täglich Stimmung gegen angebliche Auswüchse der ungarischen Jugend- und Musikkultur. Hinzu kommt die Dauerkampagne gegen den konservativen Oppositionsführer Peter Magyar, dessen Partei Tizsa (Respekt und Freiheit) in Umfragen immer neue Rekordwerte erreicht.
Noch sind es neun Monate bis zur Parlamentswahl in Ungarn, sie findet voraussichtlich im April 2026 statt. Doch schon jetzt wird die Wendestimmung immer spürbarer. Weite Teile der ungarischen Bevölkerung wünschen sich einen Machtwechsel und einen systemischen Neuanfang. Darauf reagieren Orban und seine Regierung mit Turbokampagnen, mit denen sie die Gesellschaft immer mehr polarisieren.
Digitale Bürgerkreise
Am vergangenen Samstag (26.07.2025) eröffnete Ungarns Regierungschef in seiner diesjährigen Tuschnader Rede nun auch nominell den Wahlkampf. Sein Widersacher Peter Magyar zog im westungarischen Szekesfehervar mit einer Rede vor Anhängern gleich - sie war Teil einer 80-tägigen Tour des ungarischen Oppositionsführers durch das Land, die symbolisch am 23. Oktober enden soll, dem Jahrestag der antikommunistischen und antisowjetischen Revolution von 1956. Nach diesen Auftritten steht endgültig fest: Die Wahl im kommenden Jahr wird zu einem, wie es auch Magyar in seiner Rede nannte, "Referendum über Viktor Orban" - und seine Abwahl oder sein Machterhalt das bestimmende Thema der kommenden neun Monate.
Im Ton hielt Ungarns Regierungschef in Bad Tuschnad in diesem Jahr eine für seine Verhältnisse friedfertige Rede. Er verkniff sich hässliche Worte über Gegner oder rechtsextreme Kampfparolen. Als Wahlziel für 2026 verkündete er, dass seine Partei Fidesz (Bund Junger Demokraten) 87 der 106 Direktmandate für das Parlament gewinnen wolle. Um das zu erreichen, rief Orban unter anderem zur Gründung so genannter "digitaler Bürgerkreise" auf.
Nationaler Alleinvertretungsanspruch
Die "Bürgerkreise" waren nach Orbans Wahlniederlage 2002 von ihm initiierte kleine, lokale Gruppen von Anhängern, die nicht zwangsläufig Fidesz-Mitglieder waren, aber flächendeckend für ihn und seine Partei aktiv wurden. Damals hatte Orban mit einem denkwürdigen Satz zur Gründung solcher Gruppen aufgerufen: "Die Heimat kann nicht in der Opposition sein." Seitdem setzt Orban sich selbst und seine Partei - das "nationale Lager" - mit der ungarischen Nation gleich. Alle anderen gehören nicht dazu oder sind sogar Verräter.
Die digitalen Bürgerkreise sollen den Premier nun in sozialen Medien attraktiver machen. Denn unter Jungwählern und in der Generation der unter 35-Jährigen sind Orban und seine Partei äußerst unpopulär, teils regelrecht verhasst, nicht zuletzt wegen ihres nationalen Alleinvertretungsanspruchs.
Erfüllt Ungarn noch NATO-Pflichten?
Insgesamt formulierte Orban in seiner Rede eine klare Absage an Ungarns Westbindung und an die Einbettung in die Europäische Union. Von sechs Machtzentren der Welt habe man ein gutes Verhältnis zu fünf, "den Amerikanern, den Russen, den Chinesen, den Indern und der türkischen Welt". Einzig zu Brüssel sei es schlecht. Eine Besserung stellte Orban nicht in Aussicht, sondern drohte unter anderem mit einem Veto gegen den neuen EU-Haushalt, sollte Brüssel weiterhin die Ukraine unterstützen und ihre schnelle EU-Integration vorantreiben. Anders als der Westen Europas sei Ungarn auch nicht bereit, seine "kulturell-christlichen Werte" aufzugeben. Seine Haltung fasste Orban so zusammen: Ungarn werde sich auf "Krieg, Migration und Gender" nicht einlassen - wie es angeblich Brüssel tue.
Ungarns "Großstrategie" sei es, erläuterte Orban, das Land wieder "groß und reich" zu machen. Indirekt ließ der Premier sogar offen, ob Ungarn mit ihm an der Macht seinen NATO-Bündnisverpflichtungen nachkommen würde. In länglichen Ausführungen erläuterte er, warum ein dritter Weltkrieg immer wahrscheinlicher werde und verkündete, dass Ungarn sich aus Kriegen unbedingt "heraushalten" und deshalb mit allen Machtzentren der Welt gute Beziehungen pflegen müsse. Die NATO und das mögliche Szenario eines russischen Angriffs auf ein NATO-Land erwähnte Orban in diesem Zusammenhang mit keinem Wort.
Magyars Europa-Rede
Das exakte Gegenteil zu dieser Rede formulierte der konservative Oppositionsführer Peter Magyar im westungarischen Szekesfehervar unter dem Motto "Ungarns Platz in Europa und der Welt". Gleich zu Anfang hob Magyar Ungarns europäische und Westbindung seit der Staatsgründung im Jahr 1000 hervor und formulierte eine scharfe Abgrenzung von Russland, seinem Krieg gegen die Ukraine und der russischen Aggressionspolitik im Allgemeinen. Er sicherte der EU eine konstruktiv-kritische Mitgliedschaft und der NATO eindeutige Bündistreue zu. Und er versprach, Ungarn wieder zu einem berechenbaren, verlässlichen Bündnispartner zu machen.
Wohlwissend, dass die internationale Öffentlichkeit am letzten Juli-Wochenende auf Orban und Ungarn schaut, hatte Magyar erstmals in einer Rede gezielt viele außenpolitische Passagen eingeflochten und sprach von sich als Premier in spe. Neben der Abgrenzung von Russland ging er insbesondere auf das von Orban zerrüttete ungarisch-polnische Verhältnis ein. Er sagte sogar einige Worte auf Polnisch und erklärte, seine erste Reise als Ministerpräsident werde nach Warschau führen. Auch den anderen Nachbarländern Ungarns sicherte er eine konstruktive, partnerschaftliche Zusammenarbeit zu.
Begnadeter Redner
Peter Magyar, einst selbst Fidesz-Mitglied und Ex-Mann von Orbans früherer Justizministerin Judit Varga, wurde als Renegat vor anderthalb Jahren bekannt und hat seitdem eine beispiellose Karriere als politischer Herausforderer von Orban gemacht. Er ist ein begnadeter Reder, der es immer wieder schafft, zehntausende unzufriedene Ungarn auf die Straße zu bringen. Er vertritt ähnliche Positionen wie Orbans Fidesz, allerdings weder mit dessen Vehemenz noch mit einem Exklusivitätsanspruch. So etwa spricht er sich ebenfalls gegen eine schnelle EU-Mitgliedschaft der Ukraine aus, plädiert aber für einen besonnenen Diskurs darüber.
Magyar versteht es, Orban und seiner Partei die Parolen zu entreißen und den Premier und die Fidesz dabei in ihrer Doppelmoral vorzuführen. Mitunter grenzt das selbst an Populismus. Immer wieder verspricht er wortgewaltig einen korruptionsfreien, transparenten Staat und ein Ende der gesellschaftlichen Polarisierung - beides kommt bei vielen enttäuschten Orban-Wählern gut an. Auch in Szekesfehervar erneuerte Magyar seine Versprechen.
Die meisten unabhängigen Medien und Beobachter werteten die beiden Reden nicht einfach als gegensätzlich, sondern als Aufeinandertreffen zweier Wertesysteme. Ob die Ungarn sich jedoch zwischen den beiden frei entscheiden können oder ob Orban seinen Machtverlust mit allen Mitteln verhindern wird, ist offen. In seiner Tuschnader Rede sagte der Premier, dass "wir entschieden haben, die Tisza und die DK [eine links-liberale Oppositionspartei, Anm. d. Red.] nicht an die Regierung zu lassen, weil wir wollen, dass Ungarn eine Regierung des Friedens und eine nationale Regierung hat". Was dieses Regierungsverbot für die Opposition bedeutet, ließ Orban offen.