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PolitikUngarn

Ungarn vor der Europawahl: Orban in Gefahr

3. Juni 2024

Viele Ungarn sind Orban-müde. Erstmals seit Jahren könnte Orbans Partei Fidesz bei einer Wahl erhebliche Verluste erleiden. Ungarns Premier stilisiert die Europa-Wahl deshalb zu einer Frage über Krieg und Frieden.

Demonstranten sitzen auf den Stufen vor einem Denkmal in der ungarischen Hauptstadt Budapest
Demonstration gegen die Regierung von Viktor Orban in Budapest am 06.04.2024Bild: Justin Spike/AP/dpa/picture alliance

Wenn in Ungarn Wahlen anstehen, verbreitet Viktor Orban gern krasse Verschwörungstheorien. In diesen Tagen, kurz vor der Europawahl, hört sich das Narrativ des ungarischen Premiers so an: Die EU-Zentrale in Brüssel ist vom US-Börsenmilliardär ungarisch-jüdischer Abstammung George Soros gekauft. Soros verfolgt den Plan, Europas Menschen in den Krieg gegen Russland zu schicken. Nach ihrem Tod auf dem Schlachtfeld sollen Millionen nicht-europäischer Migranten auf dem Kontinent angesiedelt werden. Die ungarische Nation hingegen würde aufhören, zu existieren.

Dieses Bild zeichnete Viktor Orban am vergangenen Samstag (01.06.2024) während eines so genannten "Friedensmarsches" in Budapest, einer Kundgebung vor seinen Anhängern kurz vor der Europa-Wahl. Es gehe dabei um eine historische Wahl, mit der über Krieg und Frieden auf dem Kontinent entschieden werde, so Ungarns Premier in seiner Rede. Seine eigene Regierung bezeichnete Orban als einzige in der EU, die für Frieden eintrete. Es gebe aber eine Chance, dass die "Kräfte des Friedens" bei der Wahl gewinnen würden. Orbans Kampfparole: "Brüssel erobern! No migration, no gender, no war!"

Demonstration zur Unterstützung von Viktor Orban in Budapest am 01.06.2024Bild: Denes Erdos/AP Photo/picture alliance

Bei den letzten vier Parlamentswahlen gewann Orbans Partei Fidesz jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, bei den drei Europawahlen seit 2009 erreichte Fidesz jeweils mehr als 50 Prozent. Das könnte sich diesmal ändern - denn nun hat Ungarns Premier erstmals einen ernsthaften Herausforderer.

Neu in Ungarn: Orbans Fidesz-Partei bekommt ernste Konkurrenz

Der Mann heißt Peter Magyar. Er ist der Ex-Mann von Orbans ehemaliger Justizministerin Judit Varga und war in der ungarischen Öffentlichkeit bis vor wenigen Monaten so gut wie unbekannt. Doch seit Februar dieses Jahres legte der 43-jährige Rechtsanwalt einen geradezu kometenhaften politischen Aufstieg hin. Mehrmals brachte er zehntausende Menschen gegen das Orban-System auf die Straße. Mit seiner konservativen Partei Tisza (abgekürzt für: Respekt und Freiheit) erreicht er in Umfragen zwischen 25 und 30 Prozent, während Orbans Fidesz überwiegend bei 45 Prozent steht, aber laut einigen Umfragen durchaus unter die 40-Prozent-Marke rutschen könnte.

Der neue Anführer der Opposition in Ungarn, Peter MagyarBild: Denes Erdos/AP/picture alliance

"Es ist es eine einzigartige, völlig neue Situation", sagte der Politologe Gabor Török dem ungarischen Portal Telex. "Dass jemand aus dem Nichts auftaucht und plötzlich eine so massive Unterstützung gegen die Machthaber genießt, das gab es noch nie in der ungarischen Politik."

Peter Magyar - ein echter Aussteiger aus dem System Orban?

Magyars Aufstieg begann im Februar 2024 nach einer Affäre um die damalige ungarische Staatspräsidentin Katalin Novak. Die hatte einen wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch verurteilten Straftäter begnadigt. In der Öffentlichkeit löste das große Empörung aus, vor allem, weil sich Orban und seine Parteifreunde als moralisch einwandfreie Kinderschützer darstellen und politischen Gegnern oft vorwerfen, Kindesmissbrauch legalisieren zu wollen. Im Zuge der Affäre trat die Staatspräsidentin Novak zurück. Zugleich zog sich auch die ehemalige Justizministerin Varga aus der Politik zurück, da sie die Begnadigung gegengezeichnet hatte - sie war zum Zeitpunkt ihres Rückzuges Fidesz-Listenführerin für die Europawahl.

Ex-Staatspräsidentin Katalin Novak musste zurücktretenBild: Gian Ehrenzeller/KEYSTONE/picture alliance

Vargas Ex-Mann Peter Magyar, der bis dahin wenig sichtbare, aber gut dotierte Posten in Orbans Apparat bekleidet hatte, nutzte die Affäre, um "aus dem System auszusteigen", wie er es nannte. In mehreren aufsehenerregenden Interviews enthüllte er Interna über Machtmechanismen und Korruption im Orban-System. Obwohl nichts davon grundlegend neu war, sorgten die Interviews für viele Schlagzeilen in Ungarn, da mit Magyar ein gut vernetzter Insider auspackte.

Warum Ungarns neuer Politstar Magyar Zweifel weckt

Der Anwalt verkauft sich zwar als makelloser Aussteiger aus dem Orban-System, hinterlässt aber bisweilen einen zweifelhaften Eindruck. Als Noch-Ehemann seiner Frau Judit Varga nahm er ohne ihr Wissen ein privates Gespräch mit ihr auf, in dem sie sich - als Noch-Justizministerin - kompromittierend über Orbans System äußert. Magyar veröffentlichte das Gespräch im März 2024, ebenfalls ohne ihre Zustimmung.

Peter Magyar bei der Anti-Regierungsdemonstration in Budapest am 15.03.2024Bild: Ferenc Isza/AFP

In die Politik stieg er über eine Art "Schläferpartei" ein. Da die Fristen bis zur Europawahl zu kurz waren, übernahm er kurzerhand die bereits 2021 gegründete, aber bis vor kurzem inaktive Kleinstpartei Tisza. Magyar erhebt häufig obskure und kaum nachprüfbare persönliche Anschuldigungen gegenüber prominenten Vertretern des Orban-Systems. Nachfragen dazu wiegelt er ab, Belege hat er praktisch nie.

Viel Unzufriedenheit über Orbans System in Ungarn

Dennoch trifft Peter Magyar offenbar einen Nerv in der ungarischen Gesellschaft. Etwa, wenn er sagt, dass einige wenige Orban-nahe Familien und Unternehmer einen großen Teil der ungarischen Wirtschaft beherrschten. Oder wenn er ankündigt, Ordnung im schlecht verwalteten Bildungs- und Gesundheitswesen schaffen zu wollen. In Ungarn gibt es viel Unzufriedenheit über Korruption und Vetternwirtschaft im Orban-System und über die schlechten Zustände in den Bereichen Bildung und Gesundheit.

Ungarn: Gegenwind für Viktor Orban

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Die bisherigen, überwiegend liberalen Oppositionsparteien konnten von dieser Stimmung in den vergangenen Jahren nicht profitieren. Sie sind zerstritten und konnten programmatisch nicht überzeugen. Viele Ungarn bringen sie zudem mit der ebenfalls äußerst korrupten sozialliberalen Regierung des Ex-Premiers Ferenc Gyurcsany von 2002 bis 2009 in Verbindung. Gyurcsany, heute Chef der sozialliberalen Partei Demokratische Koalition (DK), hat es bisher nicht fertig gebracht, sich aus der Politik zu verabschieden. Für viele Ungarn war er bisher der Grund, nicht zur Wahl zu gehen - wovon Orban mit seinem disziplinierten Wählerlager profitierte.

Orbans Fidesz: keine Themen, dafür Kaderprobleme

Der explizit konservative Newcomer Peter Magyar vertritt in vielerlei Hinsicht politische Positionen wie Orbans Fidesz - jedoch ohne die entsprechende nationalistische Demagogie. Er kritisiert beispielsweise die Bürokratie in der Europäischen Union, hetzt aber nicht gegen Europa. Solche Positionen machen ihn für unentschlossene Wähler oder für enttäuschte Orban-Anhänger attraktiv.

Ungarns Premier und seine Fidesz-Partei seien dadurch seit vielen Jahren zum ersten Mal in einer politischen Defensive, erklärt der Politologe Gabor Török. "Fidesz hat erstmals seit langem Probleme, den öffentlichen Diskurs mit Themen zu beherrschen, seit Monaten kommt nichts Eigenes von ihnen", so Török gegenüber Telex. "Außerdem hat Fidesz in den vergangenen Monaten sehr ernsthafte Kaderverluste erlitten", sagt der Politologe mit Blick auf die Rücktritte der beiden populären Politikerinnen Novak und Varga.

Judit Varga, ehemalige ungarische Justizministerin und Exfrau von Peter MagyarBild: John Thys/AFP/Getty Images

Und schon macht Orban das nächste Kaderproblem zu schaffen. Es geht um den erst seit wenigen Wochen amtierenden neuen Staatspräsidenten Tamas Sulyok. Als Rechtsanwalt soll er dabei geholfen haben, in den 1990er- und 2000er-Jahren ungarisches Agrarland über Strohmänner widerrechtlich an ausländische Firmen zu verkaufen.

Wie beim Thema Kindesmissbrauch tut sich für Orban und seine Partei auch hier erneut ein Doppelmoral-Problem auf - denn Fidesz hatte sich den Kampf gegen die "Landmafia" und den "Ausverkauf ungarischen Bodens an Ausländer" einst auf die Fahnen geschrieben.

Bisher hat Orban bei all dem zumeist die Strategie des Schweigens gewählt. Den Namen seines Herausforderers Peter Magyar spricht er nicht aus. Statt dessen droht er: Wer für die Opposition stimme, der wähle den Krieg und den Untergang der ungarischen Nation.