Ungarn vor einem heißen Wahlkampf - Medien unter Druck
24. September 2025
Der aktuelle Zustand der öffentlichen Debatte in Ungarn lässt sich gut an einer Pinnwand ablesen, die in einem Facebook-Video von Premierminister Viktor Orban zu sehen ist. Sie zeigt unter der Überschrift "Top Fake-News-Fabrikanten"die Gesichter von 22 Journalistinnen und Journalisten ungarischer Medien, darunter auch Medienpartner der DW.
Listen unliebsamer Personen oder Medien sind nicht neu in Orbans zunehmend autoritär regiertem Ungarn: Auch ein DW-Autor tauchte schon auf der "Feindesliste" einer regierungsnahen Zeitung auf. Aber der Ton wird zunehmend rauer - und das, obwohl die nächste Parlamentswahl noch über ein halbes Jahr entfernt ist.
Extrem aufgeheizte öffentliche Debatte
Vergangene Woche schockierte der Suizid des Polizeipräsidenten der südungarischen Stadt Hodmezövasarhely die Öffentlichkeit. Er war in den Tagen zuvor persönlich von einer Fidesz-nahen Lokalzeitung angegriffen worden, nachdem er eine regierungskritische Kundgebung genehmigt hatte. Bei der Veranstaltung war es auch zu Gewaltaufrufen gekommen. Es ist unklar, inwieweit der tragische Todesfall mit den öffentlichen Anfeindungen zusammenhängt - aber er fügt sich ein in das Bild von einem Land, in dem politische Debatten immer erbitterter geführt werden.
"Wir erleben seit Langem, wie der öffentliche Diskurs immer aggressiver wird: Die Politik schafft ständig Feindbilder, entmenschlicht Gruppen und flutet die Öffentlichkeit mit propagandistischen Botschaften - finanziert aus Steuergeldern," sagt der Rechts- und Medienwissenschaftler Gabor Polyak von der Eötvös-Lorand Universität in Budapest.
"Das Nervengift der Propaganda"
Gegen die Verrohung der öffentlichen Diskussion gingen am Wochenende nach Schätzungen der Veranstalter mindestens 50.000 Ungarinnen und Ungarn in Budapest auf die Straße. Unter dem Motto: "Luft! - Einstehen für freie öffentliche Räume und eine saubere öffentliche Debatte" hatte das Theaterkollektiv Loupe zu einer überparteilichen Kundgebung aufgerufen. Auf der Bühne sprachen Kulturschaffende wie die Komikerin Edina Pottyondy, die davor warnte, dass die Regierung mit dem "Nervengift der Propaganda" die öffentliche Debatte kontrolliere.
Anlass für die Demonstration waren laut Loupe-Mitgründer Tamas Lengyel die omnipräsenten Plakate der Regierung, die seit mehr als zehn Jahren gegen wechselnde Feindbilder hetzen - von Flüchtlingen bis zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
"Milliarden an Steuergeldern werden für Desinformation und Propaganda ausgegeben," sagte Schauspieler Lengyel der DW. "Wir hatten daher die Idee, etwas gegen diese Plakate zu tun." Das Ergebnis der Protest-Aktivitäten bisher: eine Petition mit über 200.000 Unterschriften sowie eine Initiative für ein Referendum über ein Verbot von Hassbotschaften im öffentlichen Raum. Lengyel und seine Mitstreitenden warten nun auf Bescheid von der ungarischen Wahlkommission.
Personenkult online und offline
Nur wenige Kilometer entfernt von der von Loupe organisierten Demonstration hatte am Tag zuvor Premierminister Viktor Orban bei einem inoffiziellen Wahlkampfevent einmal mehr vor vermeintlichen Feinden Ungarns gewarnt. Es gebe Parteien, NGOs und Medien, so der Premier, "die nur darauf warten, die Anweisungen aus Brüssel umzusetzen." Sie seien verantwortlich für Aggressionen und Verleumdungskampagnen gegen "christliche und nationale Künstler, Medien und Parteien".
Auf der gleichen Veranstaltung machte Orban ein Selfie mit dem Betreiber eines rechtsextremen Blogs, auf dem Oppositionsführer Peter Magyar regelmäßig als Wanze beschimpft wird. Magyars Partei Tisza hat laut aktuellen Umfragen gute Chancen, die Parlamentswahlen im Frühjahr 2026 zu gewinnen und steht daher im Fadenkreuz des Fidesz-Medienapparats.
"Don Veto"
Zu diesem Apparat gehören auch regierungsfreundliche Blogs und Influencer, bei denen seit einigen Monaten auch der Premierminister selbst öfter zu Gast ist. So etwa auf dem YouTube-Kanal des Rappers und Orban-Fans Laszlo Pityinger, genannt "Dopeman". Er bezeichnet den rechtspopulistischen Regierungschef anerkennend als "Don Veto" - eine Anspielung auf Ungarns Blockadepolitik in der Europäischen Union und den fiktiven Mafia-Paten Don Vito Corleone.
Dass der Premierminister nun häufiger persönlich auftrete, sei zwar neu in diesem Wahlkampf, sagt Experte Gabor Polyak. "Aber wer glaubt, Fidesz habe im digitalen Raum noch viel aufzuholen, verkennt die Realität." Eine Studie des Budapester Thinktanks Political Capital zeigt, dass in Ungarn von Januar bis August 2025 umgerechnet ca. 5,6 Millionen Euro für politische Werbung allein auf Facebook ausgegeben wurden - 85 Prozent davon von regierungsnahen Akteuren.
Erdrückende Medienmacht
In den sogenannten traditionellen Medien ist die Vormachtstellung von Fidesz noch eklatanter: So erhielt die staatliche Medienanstalt MTVA, die Orban längst auf Linie gebracht hat, in den ersten sechs Monaten des Jahres öffentliche Gelder in Höhe von etwa 80 Milliarden Forint (ca. 205 Millionen Euro). Zahlreiche private Nachrichtenportale und regionale Zeitungen sind fest in der Hand von Fidesz-nahen Unternehmen und das wichtigste staatliche Aufsichtsgremium, der Medienrat, ist mit Parteifreunden besetzt.
Auch deswegen beklagt die NGO Reporter ohne Grenzen (RSF)"politischen, wirtschaftlichen und regulatorischen Druck" auf freie Medien. Im Pressefreiheitsindex von RSF ist Ungarn mittlerweile auf Platz 68 von 180 Ländern. Als Orban 2010 seine zweite Amtszeit nach vier Jahren Opposition antrat, war das Land noch auf Platz 23.
Um freie Medien in Ländern wie Ungarn besser zu schützen, hat die EU kürzlich ein neues Gesetz erlassen, den European Media Freedom Act. Für seine Umsetzung ist Brüssel allerdings auf die Mitgliedsstaaten angewiesen - und die ungarische Regierung hat bereits eine Klage dagegen beim Europäischen Gerichtshof eingereicht.
Keine Besserung in Sicht
Angesichts der medialen Kräfteverhältnisse und verhärteten Fronten ist in absehbarer Zeit keine Entspannung der öffentlichen Debatte zu erwarten. Medienwissenschaftler Gabor Polyak sieht hier besonders die Regierungspartei in der Verantwortung, die eine stetig eskalierende Rhetorik zu ihrem Wesenskern gemacht habe: "Wir leben hier quasi seit zehn Jahren im Dauerwahlkampf, die Partei kann gar nicht anders funktionieren."
In den Monaten bis zur Wahl im Frühjahr 2026 rechnet Polyak daher mit einer weiteren Verschärfung des Diskurses: "Das wird eine sehr laute, aggressive und brutale Zeit."