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PolitikEuropa

"Wir machen Journalismus der Holzklasse"

Stephan Ozsváth
14. August 2020

In Ungarn halten nur noch wenige unabhängige Medien dem verstärkten politischen Druck stand. Die meisten Publikationen leben von der Hand in den Mund, berichtet Stephan Ozsváth aus Budapest.

Ungarn | Unabhängige Medien unter Druck
Das unabhängige Magazin "HVG" bebildert seinen Titel zur Index-Übernahme mit einem glücklichen Premierminister Bild: DW/S. Ozsváth

Das unabhängige Nachrichtenportal 24.hu zeigt noch immer ein geleaktes Handy-Video aus dem Newsroom des Konkurrenten Index.hu. Zu sehen und zu hören ist Chefredakteur Szabolcs Dull, der erklärt, dass er gefeuert wurde und dass man sein Schweigen habe kaufen wollen. Der Chefredakteur hatte sich dagegen gewehrt, dass die Redaktion des reichweitenstärksten Online-Portals Index.hu in Ungarn umstrukturiert wird. Bei Dull läuteten die Alarmglocken, er witterte politische Einflussnahme. Denn im März hatte ein regierungsnaher Oligarch die Mehrheit der Anteile an der Firma übernommen, die das Portal mit Werbegeldern versorgt. Mit Dull quittierte fast die gesamte Index-Redaktion den Dienst, eine Facebook-Seite verspricht eine Art Index 2.0. In der unabhängigen Medienszene herrscht Skepsis, dass fast 100 Redakteure in einer neuen Redaktion Platz finden könnten.

Medienleichen pflastern Orbáns Weg

"Meine Erfahrungen stimmen mich pessimistisch", sagt Gergely Márton vom unabhängigen Wochenmagazin HVG, der schon das Sterben seines früheren Arbeitgebers erlebt hat. 2016 war die größte Tageszeitung Népszabadság von einem Freund des Ministerpräsidenten Viktor Orbán übernommen und geschlossen worden - mit im Paket damals auch ein Dutzend Regionalzeitungen, die so unter Regierungskontrolle gerieten. Márton glaubt, dass Index als "Hülle" mit ein paar "Streikbrechern" in der Redaktion überleben und zahlreiche Leser binden wird. "Die werden scheinbar Nachrichten liefern, die aber schon vergiftet sind", glaubt der HVG-Redakteur.

Auch Csaba Lukács hat seine einstige Zeitung sterben sehen, 2017 war auch die konservative Tageszeitung Magyar Nemzet zum Propaganda-Sprachrohr der Regierung umgebaut worden. Er und 30 Kolleg/inn/en wagten den Neustart mit der Wochenzeitung Magyar Hang, die heute etwa 20.000 Exemplare verkauft. "Wir leben von unseren Lesern", sagt der publizistische Leiter der Zeitung, die auf Reportagen aus der Provinz setzt und in Bratislava, der Hauptstadt des Nachbarlandes Slowakei, gedruckt wird. Die unabhängigen Medien Ungarns, aber auch kleine Investigativ-Redaktionen wie Direkt 36 oder Átlátszó verlieren mit dem Portal Index.hu auch einen Reichweitenverstärker, sagt Lukács, denn "Index konnte bis zu einer Million Nutzern die Recherchen von kleinen Investigativ-Redaktionen zeigen" und habe damit die "Stimme der anderen verstärkt". Die ungarische Regierung behauptete in den vergangenen Jahren jedesmal, nichts mit dem Tod oder der Übernahme eines Mediums zu tun zu haben und verwies auf den Markt. Regierungsvertreter sprechen immer wieder von einem Übergewicht oppositioneller Stimmen auf dem ungarischen Medienmarkt. Das gelte es auszugleichen.

Csaba Lukács, Magyar Hang: "Wir leben von unseren Lesern."Bild: DW/S. Ozsváth

Verzerrter Medienmarkt

Tatsächlich gibt es heute nur noch wenige unabhängige Medien in Ungarn - und die haben geringe Reichweiten. Den Markt beherrschen die gleichgeschalteten staatlichen Medien, fast 500 sind seit 2018 unter dem Dach einer Stiftung zusammengefasst (KESMA). Dort pumpt die Regierung Orbán viele Millionen Euro hinein, obwohl die ungarischen Mediennutzer sich von ihnen abwenden, wie Miklós Hargitai betont: "Dort, wo nicht Leserschaft oder Hörer den Geldfluss bestimmen", sagt der Journalist, der auch dem Journalistenverband MUÒSZ vorsteht, "sondern politische Logik". Angesichts dessen könne man in Ungarn "nicht mehr von einem Markt sprechen". Deshalb befänden sich internationale Medienunternehmen wie Bertelsmann, Ringier oder die finnische Sanoma seit 2010 auf einer "Einbahnstraße", so Hargitai: Raus aus Ungarn.

Wer dagegen Orbáns Lied pfeift, wird mit staatlichen Anzeigen belohnt, die ein Gros des Werbegeschäfts ausmachen. Auch internationale Unternehmen zögen es vor, nicht in unabhängigen Medien zu werben, sagt Csaba Lukács, "weil sie Angst haben, von der Regierung bestraft zu werden". Er nennt das Beispiel eines deutschen Autoherstellers, dessen Produkte zwar perfekt zur Leserschaft von Magyar Hang passen würden, aber "da das Unternehmen staatliche Hilfen für die Errichtung einer neuen Fabrik bekomme", wolle es "nichts riskieren". Zsolt Kerner, Redakteur des Online-Mediums 24.hu spricht von einer "Selbstzensur der Werbetreibenden". In Brüssel zeigte sich Wettbewerbskommissarin Vera Jourova zwar "besorgt" angesichts der Vorgänge um Index.hu. MUÒSZ-Funktionär Hargitai hält das aber für Sonntagsreden. Konkrete Klagen seines Verbands - etwa gegen die Wettbewerbsverzerrung in den staatlichen Medien und die KESMA-Stiftung - seien auf die lange Bank geschoben worden. "Es fehlt der politische Wille", schlussfolgert Hargitai.

Schwieriger Journalistenalltag und Angriffe

Weil die unabhängigen Medien in Ungarn noch dazu in Pandemie-Zeiten ums Überleben kämpfen, sind auch die Gehälter der Mitarbeiter niedrig. Magyar Hang zahlt seinen Redakteuren 700 Euro Netto, Csaba Lukács vergleicht diesen "Holzklasse-Journalismus" mit Billigfliegern und dem Einräumen von Supermarktregalen. "Das machst Du entweder aus Liebe oder aus Berufung", erklärt Miklós Hargitai, Redakteur der linken Tageszeitung Népszava. Wenig Geld für schwierige Arbeitsbedingungen, denn Anfragen werden spät oder gar nicht beantwortet, beklagen die Journalisten.

"Wir haben große Probleme, Interviews zu bekommen, Antworten auf unsere Fragen zu bekommen", berichtet Gergely Márton. Wer zu kritisch ist, kommt nicht in den Presseverteiler, wird nicht zu Pressekonferenzen eingeladen, erzählen alle Befragten - und auch, dass Informanten vorsichtiger werden, Gesprächspartner zugeknöpfter. "Wir haben Glück, wenn am nächsten Tag in regierungsnahen Zeitungen die eine oder andere unserer Fragen beantwortet wird", sagt 24.hu-Redakteur Zsolt Kerner.

Seit einiger Zeit blasen regierungsnahe Medien auch zur Hatz auf die unabhängigen Kollegen: Kamerateams verfolgen Journalisten bis vor die Haustür, auch die Handy-Nummer vom entlassenen Index-Chefredakteur Szabolcs Dull kursierte im Netz. "Das Ziel ist, dass sich niemand sicher fühlen soll", urteilt Zsolt Kerner. Auf Facebook wendet sich eine Agentur sogar gezielt an "rechtsgerichtete" Ungarn, um sie zu "Facebook-Kriegern" auszubilden. Unterlegt ist die Werbebotschaft der Troll-Firma mit den Logos der verbliebenen unabhängigen Medien wie HVG. Das politische Klima in Ungarn ist von Kampf und Gegnerschaft vergiftet, meint Redakteur Gergely Márton, und nennt die Medienpolitik der Regierung deshalb auch einen "asymmetrischen Krieg". Für die Regierung sei es schlicht unvorstellbar, "dass in Zeitungen Journalisten arbeiten", kommentiert Zsolt Kerner, sie vermute hinter jedem Artikel einen politischen Willen. "Deswegen hält sie es für legitim, Medien so anzugreifen wie den politischen Gegner". All das tut der Pressefreiheit nicht gut. Im Ranking von Reporter ohne Grenzen sank Ungarn in zehn Jahren Orbán-Regierung von Platz 23 auf 89 von 180.

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