Ungarns Nationalfeiertag wird zum Magyar-Orban-Schaukampf
24. Oktober 2025
Die Zeiten, in denen eine Mehrheit der Menschen in Ungarn an einem der drei Nationalfeiertage über politische Meinungsverschiedenheiten halbwegs hinwegsehen konnte, sind lange vorbei. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat schon vor vielen Jahren damit begonnen, an jenen Tagen, an denen es eigentlich um das ganze Land geht, Kritiker zu brandmarken, zu verunglimpfen und regelrecht niederzumachen. Und so sind Nationalfeiertage in Ungarn inzwischen jedes Mal von neuem Gelegenheiten, an denen das vergiftete öffentliche Klima in besonders bedrückender Weise spürbar wird.
Der diesjährige 23. Oktober hat dabei alles Bisherige noch einmal übertroffen. An dem Tag, an dem der von der Sowjetunion blutig unterdrückten antikommunistischen Revolution von 1956 gedacht wird, marschierten in Budapest jeweils zehntausende Anhänger zweier politischer Lager zu zwei gewaltigen Wahlkampfveranstaltungen auf - eine Verkörperung jener zwei Ungarn, die bei der Parlamentswahl im April 2026 gegeneinander antreten.
Zumindest auf Seiten Viktor Orbans ging es an diesem 23. Oktober darum, allen Gegnern und Andersdenkenden das Recht abzusprechen, zum Land und zur Nation zu gehören. "Wer Ungar ist, hält zu uns", stand auf einer riesigen Wand vor dem Parlament, wo Orban seine Rede hielt. Diejenigen Ungarn, die ihn und seine Partei Fidesz (Bund Junger Demokraten) nicht unterstützen, nannte der Premier "irregeleitete Menschen".
Orbans Herausforderer Peter Magyar, der mit seiner Partei Tisza (Respekt und Freiheit) gute Chancen hat, den Langzeit-Premier zu besiegen, bemühte sich in seiner Rede auf dem Budapester Heldenplatz zwar großenteils um versöhnliche Töne. Wenn unter seinen Anhängern die seit einiger Zeit üblichen "Dreckiger-Fidesz"-Rufe aufkamen, hob er am Mikrofon schnell die Stimme, um die Parolen zu übertönen. In einem großen Teil seiner Rede ging es jedoch darum, sich selbst und seine Partei zu den Wahlsiegern auszurufen und einen radikalen Systemwechsel anzukündigen.
"Kraftdemonstration" der beiden Lager
"Friedensmarsch" nannte sich Orbans Kundgebung, "Nationaler Marsch" die von Peter Magyar. Unabhängige ungarische Medien behandelten den diesjährigen 23. Oktober deshalb von vornherein als "Match" und "Kraftdemonstration" der beiden politischen Lager und fragten: "Wer gewinnt den Tag - Magyar oder Orban?" oder: "Wo waren mehr Leute?".
Die öffentlich-rechtlichen Medien, die gesetzlich zur Ausgewogenheit verpflichtet, faktisch aber Orban-loyal sind, erwähnten die Kundgebung der oppositionellen Tisza-Partei nur indirekt. Private Orban-treue Medien hetzten wie gewohnt gegen Magyar als "Marionette Brüssels" und "Kriegstreiber". Unabhängige Experten schätzten die Teilnehmer der Fidesz-Veranstaltung auf 85.000 bis 90.000, die der Tisza-Kundgebung auf 160.000 bis 170.000.
Perfides Kunststück
Die ungarische Revolution von 1956 war eine antikommunistische Erhebung, die sich auch explizit gegen Russland als Imperium und Kolonialmacht richtete. Das kam unter anderem in der legendären Losung "Russen, geht nach Hause!" (Ruszkik haza!) zum Ausdruck, die 1956 auf Hauswände und sowjetische Panzer gemalt wurde. "Ruszkik haza!" war 1989/90 auch ein Wahlkampfslogan des damals noch radikal-liberalen Orban und seiner Partei Fidesz. Orban selbst wurde im Juni 1989 schlagartig berühmt, weil er in einer Rede den Abzug der sowjetischen Armee aus Ungarn forderte.
Am diesjährigen 23. Oktober legte Orban nun ein perfides rhetorisches Kunststück hin: Er pries den Freiheitskampf der Ungarn 1956 als einzigartig, erwähnte Moskau, den brutalen sowjetischen Einmarsch in Ungarn 1956 und den heutigen Krieg Russlands in der Ukraine mit keinem Wort, beschuldigte aber die damalige Welt, "Ungarn im Stich gelassen" zu haben. Zugleich verleumdete er den heutigen Freiheitskampf der Ukraine und sagte, Ungarn stehe als einziges Land in Europa auf der Seite des Friedens. "Brüssel hat entschieden, in den Krieg zu ziehen", behauptete Orban. Die finanzielle Unterstützung der Ukraine durch die EU sei eine "Investition Brüssels". Weil Brüssel aber kein Geld habe, wolle man es den europäischen Bürgern und auch Ungarn "aus der Tasche ziehen".
Erstmals in einer Rede gestand Orban indirekt ein, dass im Land eine Wechselstimmung herrsche. "Es gibt viele Ungarn, die glauben, dass sie für eine gute Sache eintreten, wenn sie Brüssel und die Kandidaten der Brüsseler Marionettenregierung unterstützen", so der Premier in Anspielung auf seinen Kontrahenten Peter Magyar. Den "irregeleiteten Menschen" müsse man klarmachen, dass Brüssel "nicht die Hilfe, sondern die Gefahr" ist.
Populismus ohne Hetze
Der konservativ eingestellte Peter Magyar besitzt das Talent, die Narrative Orbans und des Fidesz mit deren eigenen Waffen, also mit einer gehörigen Portion Populismus zu kontern, ohne dabei in Hetze gegen andere zu verfallen. So etwa grenzt er sich beim Thema der Ukraine-Unterstützung oder der Migration nicht völlig von Orban-Positionen ab, stellt aber Orbans Doppelmoral in den Vordergrund, etwa, wenn er sagt, der Premier hetze gegen Migranten, preise ein ethnisch reines Ungarn, lasse aber zehntausende nicht-europäische Arbeitskräfte ins Land holen.
Insgesamt repräsentiert Magyar gewissermaßen eine demokratische Version des Fidesz. Das trifft auf eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit Orbans Regime, seinen Korruptions- und Luxusaffären und der Müdigkeit von dem Zustand der völlig überzogenen Polarisierung, die Orban permanent erzeugt.
In seiner Rede am 23. Oktober zog Magyar eine Parallele von 1956 zur heutigen Situation und versprach nach seinem Wahlsieg - den er selbstsicher bereits jetzt verkündete - einen totalen Bruch mit Orbans Regime, aber auch mit der postkommunistischen Ära der sozialliberalen Regierungen. Im neuen Ungarn würden "Ehrlichkeit, Anstand, Respekt und Solidarität" zählen - das werde ein Ungarn ohne Oligarchen sein, ein Ungarn, das sich nicht nach Osten wende, sondern in der EU und der NATO bleibe. Für letzteres Versprechen erntete er mit den größten Beifall in seiner Rede - dazu ertönten mächtige "Russen-nach-Hause"-Rufe aus der Menge.
Eher Erfolg für Tisza
Magyar, der einst selbst Fidesz-Mitglied war, betrat die politische Bühne Ungarns erst vor anderthalb Jahren. Seitdem hat er sich und seine Partei Tisza an die Spitze der Umfragen katapultiert. Manche Wahlexperten halten es sogar für möglich, dass er mit seiner Partei Tisza eine Zwei-Drittel-Mehrheit holt.
Seit dem Sommer befand sich Magyar auf einer großen 80-tägigen Wahlkampftour durch Ungarn. Nun kündigt er an, ab dem 5. November bis zum Wahltag erneut durch das Land zu reisen. "Weg zum Sieg" nennt er diesen Wahlkampfmarathon.
Insgesamt bewerteten Beobachter die gestrigen Aufmärsche eher als Erfolg für Magyar und seine Tisza-Partei. Der Politologe Gabor Török sagte, Orbans Herausforderer habe bewiesen, dass er es in puncto Massenmobilisierung mit dem Fidesz aufnehmen könne, das sei zuvor keiner anderen Oppositionspartei gelungen. Das Portal HVG zog in einer Überschrift so Bilanz: "Ungarn ist nicht Fidesz".