1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Ungarns Veto: Orbán allein zu Hause

Stephan Ozsváth
7. Dezember 2020

Ungarns Premier Viktor Orbán hat sich mit seinem Veto gegen den EU-Haushalt innenpolitisch verkalkuliert. Eine große Mehrheit der Ungarn ist proeuropäisch eingestellt und lehnt das Veto ab.

Belgien I EU-Sondergipfel zur Bewältigung der Corona-Wirtschaftskrise
Ungarns Premier Viktor Orbán beim EU-Gipfel im Gebäude des Europäischen Rates am 19.07.2020Bild: picture-alliance/dpa/AFP Pool/J. Thys

Auf dem Kundenparkplatz des Einkaufszentrums von Siegendorf im österreichischen Burgenland wird klar, wie nah Ungarn ist: Jedes dritte Auto hat ein ungarisches Kennzeichen, die Kreisstadt Sopron hinter der Grenze ist nur wenige Kilometer entfernt. "Ich komme oft zum Einkaufen her", sagt ein Kunde und schiebt seinen Einkaufswagen zurück in die Reihe. Er sei Polizist, erzählt er und ist damit wohl der einzige Ungar auf dem Parkplatz, der nicht zum Arbeiten nach Österreich pendelt.

"Wir hatten das Glück, EU-Mitglied zu werden", sagt der Staatsdiener, der lieber anonym bleiben will. Ihn stört, "dass die ungarische Regierung Ungarn so herunterzieht". Er meint damit die "Streitereien zwischen Brüssel und Budapest" und vor allem das Veto der Regierungen in Budapest und Warschau gegen die geplante Kopplung von EU-Zahlungen an die Einhaltung von Rechtsstaatskriterien. Damit blockieren Ungarn und Polen derzeit nicht nur den EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre, sondern auch die EU-Corona-Hilfen - ingesamt 1,8 Billionen Euro.

Der Politologe Dániel Hegedüs ist Experte für Ost- und Mitteleuropa im Berliner Büro des German Marshall FundBild: DW/A.M. Pedziwol

Ungarns Premier Viktor Orbán habe darauf spekuliert, dass die übrigen 25 EU-Mitglieder das Thema Rechtsstaat über Bord kippen würden, "um Zugriff auf die Corona-Hilfen zu bekommen", sagt Dániel Hegedüs vom German Marshall Fund. "Der Plan ging aber nicht auf", so der Politologe im Gespräch mit der DW, denn in den Niederlanden und Dänemark spiele das Thema Rechtsstaat innenpolitisch eine immer größere Rolle. "Die Regierung Orbán hat übersehen, dass sich in den Mitgliedsstaaten und im Europaparlament eine Art Rechtsstaatlichkeits-Koalition gebildet hat", sagt Hegedüs.

Auch im eigenen Land scheint es, als habe der sonst mit sicherem politischen Instinkt ausgestattete ungarische Premier in der Veto-Frage den Kontakt zu seinem Volk verloren. 77 Prozent der Ungarn finden die Kopplung von EU-Geldern mit einem Rechtsstaats-TÜV richtig, ergab kürzlich eine Umfrage im Auftrag des Straßburger Europaparlaments. Kein Wunder: Für die Ungarn ist Korruption alltäglich.

Korruption in Orbáns Familie

Immer wieder gerät dabei auch Orbáns Familie in die Schlagzeilen. So hat der Schwiegersohn des Premiers, István Tiborcz, laut dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) die EU-Steuerzahler um mehr als 40 Millionen Euro betrogen. In Ungarn wird in dem Fall dennoch nicht ermittelt.

Ungarische Investigativ-Journalisten des Portals "Direkt36" recherchierten auch mehrfach über eine Baufirma von Orbáns Vater Gyözö. Demnach profitierte er über ein undurchsichtiges Firmengeflecht von staatlichen Aufträgen mit EU-Beteiligung.

Viktor Orbán und Ehefrau Aniko Levai bei der Europa-Wahl im Mai 2019Bild: Reuters/B. Szabo

Das sind nicht nur Einzelfälle - offenbar versickert generell viel EU-Fördergeld in dunklen Kanälen: Im Korruptionsindex von Transparency International schnitt Ungarn am zweitschlechtesten von allen EU-Staaten ab. Auch die Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) stellte der Regierung in Budapest kürzlich ein Zeugnis von "insgesamt unbefriedigend" aus.

15 Prozent unterstützen Orbáns Veto

Schon seit längerem sehen viele Ungarn in Umfragen das Thema Korruption als eines der vorrangigen Probleme im Land an. Mit seinem Veto in Brüssel kann Orbán die meisten Bürger deshalb nicht überzeugen. Gerade einmal 15 Prozent unterstützen es, ergab jüngst eine Telefonumfrage im Auftrag des Senders Euronews.

Angestellte des öffentlichen Personennahverkehrs in Ungarns Hauptstadt Budapest verteilen Atemmasken an FahrgästeBild: picture-alliance/AP Photo/Z. Balogh

Eine Mehrheit der Ungarn glaubt hingegen, der Schachzug könne dem Land großen wirtschaftlichen Schaden zufügen - und das auch schon kurzfristig. Dem Vernehmen nach plant die Kommission bereits, wenigstens die Corona-Hilfen schnell auszuzahlen. Polen und Ungarn könnten dabei laut Verteilungsschlüssel für die erste Tranche zusammen 23 Milliarden Euro verlieren.

EU-skeptische EU-Gewinner

Balázs Nagy und seine Frau Henrietta auf dem grenznahen Supermarkt-Parkplatz in Siegendorf finden zwar auch, dass die EU-Steuerzahler ein Recht hätten, zu wissen, was mit ihrem Geld geschieht. Aber Wirtschaft und Politik müsse man trennen, meint der Ehemann Nagy: "Bei dem Veto geht es um Politik."

Auch Premier Orbán möchte gerne Geld und politische Moral entkoppeln. Die Regierung in Budapest pocht dabei darauf, dass Ungarn aus Brüssel ohnehin nur bekomme, was dem Land zustehe. Balázs Nagy sieht das ebenso: "Was Ungarn einzahlt, bekommt es zurück".

Die größten Nettoempfänger der EU

Die Zahlen des EU-Statistikamtes Eurostat besagen etwas Anderes: Polen und Ungarn sind die größten Nettoempfänger der Gemeinschaft. Nach Warschau flossen im vergangenen Jahr zwölf Milliarden Euro, nach Budapest fünf Milliarden, Ungarn selbst zahlt in den EU-Haushalt nur etwa eine Milliarde Euro ein.

Viktor Orban (M) gibt am 19.07.2020 eine Pressekonferenz am Rande des EU-Gipfels in BrüsselBild: picture-alliance/dpa/J. Neudecker

Dass sein Heimatland zweitgrößter Nettoempfänger der EU ist, will Nagy nicht gelten lassen: "Die Zahlen lügen, so wie vieles in Brüssel eine Lüge ist." Das Ehepaar Nagy arbeitet in einem Fleischereibetrieb in der Grenzgemeinde Loipersbach. "Wir kommen und gehen zusammen", so Nagy, "je nach Schicht."

Hungexit?

Diese Arbeit lohne sich derzeit noch, meint er - das Paar profitiert von den offenen EU-Grenzen. Dennoch sieht Nagy langfristig in der EU-Mitgliedschaft Ungarns eher Nachteile. "Brüssel ist zu liberal", meint er, "das passt nicht zu den christlich-konservativen Dingen, die die Mehrheit der Ungarn und Polen vertritt".

Ein Leser einer konservativen ungarischen Zeitung in einem Park in BudapestBild: picture-alliance/imageBROKER/K. F. Schöfmann

Auch Premier Orbán räsoniert mal mehr, mal weniger direkt über die Vorteile eines EU-Austritts. In seinem jüngsten wöchentlichen Radioauftritt am vergangenen Freitag sprach er darüber, dass Großbritannien, anders als die schwerfällige EU, schnell Corona-Impfungen genehmigt habe.

Auch Orbán-Anhänger wollen in der EU bleiben

Dass Ungarn die Europäische Union verlässt, hält der Politologe Dániel Hegedüs vom German Marshall Fund für "unrealistisch". Die ungarischen Exporte gingen zum Großteil in den EU-Binnenmarkt, Ungarns Wirtschaft brauche das Geld aus Brüssel. Außerdem: "Die ungarische Gesellschaft und ein großer Teil von Orbáns Wählerschaft würden einen EU-Austritt Ungarns nicht mittragen", so Hegedüs.

Ungarn gehöre trotz der Anti-EU-Rhetorik der Regierung immer noch zu den pro-europäischsten Gesellschaften der Gemeinschaft. Umgekehrt jedoch würde ein Austritt Ungarns "in vielen europäischen Hauptstädten mittlerweile weniger mit Bedauern als mit Erleichterung" aufgenommen, glaubt der Politologe.

Daran sei Viktor Orbán schuld, meint der Polizist auf dem Parkplatz im Burgenland. Der ungarische Premier solle sich jetzt mit der EU-Kommission einigen, statt auf Krawall zu setzen. Der Supermarkt-Kunde wünscht sich, dass man irgendwann nicht mehr "mit dem Finger auf Ungarn zeigt", sondern dass "das Land als normales EU-Mitglied" wahrgenommen werde.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen
Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen