Zwei ungleiche Brüder: Hermann und Albert Göring
1. November 2025
März 1938. Grölend ziehen Schlägertruppen in Lederstiefeln und brauner Uniform durch Wiens Straßen. Sie gehören zu Hitlers Sturmabteilung (SA) und feiern den Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Zwei von ihnen hängen einer alten Frau ein Schild mit den Worten "ich bin eine Judensau" um. Ein Mann boxt sich nach vorne, um ihr zu helfen. Bald fliegen die Fäuste zwischen ihm und den Braunhemden. Er hat Glück, dass er nicht totgeschlagen wird. Widerstand gegen die Nazis ist in diesen Zeiten gefährlich. Stattdessen kommt er hinter Gitter.
Doch dort bleibt er nicht lange - dank seines Namens: Albert Göring. Er ist der Bruder von Reichsmarschall Hermann Göring, dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Hitlers engstem Vertrauten. Und er ist ein Gegner der Nazis, der aktiv ihre Politik hintertreibt. "Was sie taten, verstieß gegen all seine Werte", sagt William Hastings Burke, Autor des Buches "Hermanns Bruder. Wer war Albert Göring?" der DW. "Er konnte das nicht mitansehen."
Getrennte Wege - und doch verbunden
Wie konnten die zwei Brüder so unterschiedlich sein? Der eine: machtbesessen und eitel; der andere: ein charmanter Lebemann, ein Widerständler wie Oskar Schindler. Während Hermann schon 1922 zum Wegbegleiter Hitlers wird, hat Albert keine politische Ambitionen. Er lehnt die nationalsozialistischen Ideen ab, die Brutalität der NS-Schergen stößt ihn ab.
1929 zieht der studierte Maschinenbauer nach Wien und steigt Anfang der 1930er-Jahre als technischer Direktor bei der Tobis-Sascha Filmindustrie AG ins Filmgeschäft ein. Mit Sorge beobachtet er, wie in Deutschland Juden und politische Gegner der Nazis verfolgt und entrechtet werden.
Es klinge seltsam, sagt Burke, aber ausgerechnet Hermann habe seinen jüngeren Bruder gebeten, Henny Porten eine Rolle im Film zu besorgen: Der Star der Stummfilm-Ära darf in Deutschland nicht mehr vor die Kamera, weil sie sich weigert, sich von ihrem jüdischen Ehemann loszusagen. Henny ist eine Freundin von Hermann Görings Ehefrau Emma. Albert hilft gerne.
Albert wird zum Fluchthelfer
Zwei Jahre später holt ihn Nazideutschland auch in Wien ein. Joseph Goebbels will die Tobis-Sascha Filmindustrie AG seiner Propaganda-Maschiniere einverleiben. Alberts ehemaliger Chef Oskar Pilzer war bis zum Berufsverbot für Juden einer der erfolgreichsten Filmproduzenten Europas. Als die Gestapo ihn verhaftet, schaltet Albert Göring sich ein. Er bringt den ehemaligen Filmmogul persönlich an die italienische Grenze.
Er wird noch oft helfen: Während sein Bruder mit Hochdruck am Ausbau der Luftwaffe feilt, besorgt Albert falsche Papiere für Verfolgte, organisiert Fluchtrouten und stattet Flüchtlinge mit Geld aus. Amtsträger schüchtert er immer wieder geschickt mit seinem Namen ein. Auch beim Komponisten Franz Lehár, dessen Frau Jüdin ist, interveniert er: Er bittet Hermann, die Beziehung als sogenannte privilegierte Mischehe eintragen zu lassen; so entkommt Sophie Léhar der Deportation ins KZ.
Der große Bruder hilft
Bei seinen Rettungsaktionen nimmt Albert immer wieder die Hilfe seines mächtigen Bruders in Anspruch. Erstaunlicherweise gewährt er sie ihm. So gnadenlos Hermann Göring als Politiker gewesen sei, so nachsichtig sei er gegenüber der Familie gewesen, sagt Burke.
"Tatsächlich bereitete Albert Hermann große Kopfschmerzen, aber er deckte ihn. Er war sein Bruder, und er liebte ihn." Für Hermann Göring, so der Australier, habe es eine klare Hierarchie gegeben. "Ganz oben stand er selbst. Dann kam seine Familie und dann das Vaterland und der Nationalsozialismus - in dieser Reihenfolge. Es hat sein Ego befriedigt, Albert schützen zu können."
1939 wird Albert Göring zum Exportleiter der Škoda-Werke im tschechischen Brünn ernannt. "Es war keine Vetternwirtschaft, wie man munkelte. Das tschechische Management wollte Albert", erzählt Burke. "Sie hofften, die Interessen von Škoda zu schützen - und wer könnte das besser als der Bruder des Big Boss aus Berlin?"
Im Visier der Gestapo
Und Albert tut genau, was man sich von ihm versprochen hat. Er setzt sich für die Tschechen ein und mehr noch: Er unterstützt aktiv den tschechischen Widerstand und gibt mitunter auch geheime Informationen weiter, die er durch gute geschäftliche Verbindungen und nicht zuletzt auch durch seinen Bruder bekommt - etwa die genaue Lage einer U-Boot-Werft oder auch den geplanten Bruch des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts.
Zeugenaussagen zufolge rettet er auch in Tschechien Menschenleben. So soll er im KZ Theresienstadt jüdische Inhaftierte für vermeintlich "kriegswichtige" Arbeit in den Škoda-Werken abgeholt haben. "Der Leiter des Konzentrationslagers stimmte zu, weil es Albert Göring war", erzählte Jacques Benbassat, Sohn eines Weggefährten, später. "Er fuhr in den Wald und ließ sie frei."
Doch Alberts Aktionen werden zunehmend unvorsichtiger, längst hat ihn die Gestapo im Visier; er wird zum Staatsfeind deklariert. Er landet nur nicht im Gefängnis, weil Hermann immer noch seine schützende Hand über ihn hält. "Selbst als Hermanns Macht 1944 auf einem Tiefpunkt war, hat er dennoch sein politisches Leben riskiert, um Albert zu retten", berichtet Burke.
Der Name "Göring" als Fluch
Die brüderliche Loyalität beruhte auf Gegenseitigkeit. Nach dem Untergang des Dritten Reichs werden beide Brüder inhaftiert: Albert weigert sich bei den Verhören, schlecht von Hermann zu sprechen, und lobt seine "Warmherzigkeit". Die Amerikaner glauben ihm nicht, dass er selbst kein Nazi war. "Derselbe Name, der ihn im NS- Regime mehrfach vor dem Zugriff der Gestapo rettete, erwies sich nun als Fluch", so Burke.
"Das Ergebnis der Vernehmung von Albert Göring", notierte US-Ermittler Paul Kubala am 19. September 1945, "ist einer der plattesten Versuche der Ehrenrettung und Reinwaschung, die das SAIC (Seventh Army Interrogation Center) je erlebt hat." Alberts "Mangel an Raffinesse" lasse sich "allenfalls noch mit der Körpermasse seines fettleibigen Bruders vergleichen".
Im englischen Original heißt Burkes Buch "Thirty Four": Es spielt auf die 34 Namen an, die Albert Göring in alphabetischer Reihenfolge auflistete: "Menschen, denen ich bei eigener Gefahr (dreimal Gestapo-Haftbefehle!) Leben oder Existenz rettete." Doch niemand macht sich die Mühe, die Personen auf der Liste zu suchen - obwohl durchaus prominente Namen dabei sind.
Erst als ein neuer Verhörbeamter den Fall auf den Tisch bekommt, wendet sich das Blatt für Albert: Victor Parker ist der Neffe von Sophie Léhar, die ebenfalls auf Alberts Liste steht. Während Hermann Göring sich seiner Hinrichtung durch die Einnahme einer Zyankali-Kapsel entzieht, kommt Albert Göring schließlich frei.
"Doch er blieb ein Ausgestoßener im eigenen Land - wegen seines Namens", sagt Burke. Göring bekommt nach dem Krieg keine Arbeit mehr als Ingenieur, lebt von kleinen Jobs und Übersetzungsaufträgen. Gesellschaftlich wird er bis zu seinem Tod 1966, da ist er 71, von vielen gemieden.
Albert als Vorbild - auch in der Gegenwart
"Am Ende war es sehr traurig für Albert", sagt Burke. Seit er als 22-Jähriger im fernen Sydney zum ersten Mal in einem Fernsehbericht von ihm gehört hat, ist er besessen von dessen Geschichte. Er reiste nach Europa und suchte nach Albert Görings Spuren - durchforstete Archive, traf ehemalige Weggefährten oder Angehörige von Menschen, denen Albert Göring geholfen haben soll. Sogar sein Grab hat er aufgespürt.
"Ich wollte der Welt von diesem Menschen erzählen", so Burke. Sein Buch erschien 2015, aber noch immer ist Albert Göring sehr präsent in seinem Leben.
Ein Vorbild wie ihn brauche man: "Er hatte den Mut, sich gegen Autoritarismus und Faschismus zu stellen, aber er ist nach dem Krieg nicht losgezogen und hat es der Welt erzählt. Es ging ihm nicht um Ruhm, er hat einfach seine Menschlichkeit bewahrt." Man könne natürlich die 1930er-Jahre in Deutschland nicht mit heute vergleichen, ergänzt er, "aber wir leben in Zeiten, in denen das beeindruckende Beispiel Albert Görings sehr wichtig ist."
William Hastings Burke hat schon vor Jahren einen Antrag bei der Gedenkstätte Yad Vashem gestellt, damit Albert Göring als "Gerechter unter den Völkern" aufgenommen wird. Er hofft, dass ihm irgendwann stattgegeben wird.