Zwischen Idealismus und Realität
16. August 2019Die Alte Försterei, das Stadion von Union Berlin, ist an Spieltagen nur selten ein Ort der Stille. Lautstark wird jede Gastmannschaft empfangen, die nach Köpenick kommt. Eine regelrechte Wahnsinnsparty erwartet alle Besucher auch am Sonntag, wenn der Klub das erste Bundesligaspiel in der Vereinshistorie feiern darf. Einen Wermutstropfen gibt es allerdings: die ersten 15 Bundesliga-Minuten wird es gruselig ruhig im Köpenicker Stadion sein.
RB Leipzig ist bei Unions Bundesliga-Debüt zu Gast und diese Tatsache trübt die Partystimmung der Berliner Ultraszene: Unions älteste Ultragruppierung, Wuhlesyndikat, hat zu 15 Minuten Stille aufgerufen - aus Protest gegen das kommerzielle Modell, das RB vorlebt.
Der Boykott spaltet den Verein
"Es schmerzt, das erste Bundesligaspiel unseres Vereins in einem solchen Rahmen begehen zu müssen und doch liegt hier die große Chance, zu beweisen, dass wir genau deshalb ein Gewinn für die Bundesliga sind - weil wir bereit sind, für unsere Werte und unsere Art der Vereinskultur zu kämpfen und Opfer zu bringen", heißt es in einem Statement der Gruppe.
Die Proteste gegen RB Leipzig sind nicht neu, Unions Fans haben bereits in der Vergangenheit regelmäßig gegen den "neuen Verein" aus Leipzig protestiert, doch der Zeitpunkt dieses Boykotts spaltet die treuen Anhänger der Union.
Sollten sie zu ihren Prinzipien und ihren Überzeugungen stehen, auf das Risiko hin, dass ein besonderer Tag in der Vereinsgeschichte verdorben werden könnte? Oder sollten sie sich ein Stück zurücknehmen und den Spielern auf dem Feld die bestmögliche Unterstützung zukommen lassen?
Das Dilemma zeigt die Herausforderungen für den Bundesliga-Neuling Union Berlin. Es gilt, eine Balance zwischen den traditionellen Werten und den Realitäten des modernen Fußballs zu finden.
Kult oder Kommerz?
"Union ist nicht nur Fußball," erklärt Anhänger Sven Dobberstein. "Union bedeutet Familie und Solidarität. Das ist das Wichtigste hier.” Doch die Gefahr besteht, dass die Menschen diesem "Märchen" nicht glauben, wie ein deutscher Journalist witzelte. Das wurde deutlich, nachdem Union einen Trikotsponsorenvertrag mit dem Luxemburger Immobilienunternehmen Aroundtown abgeschlossen hatte. Schließlich plagen viele Berliner Ängste, da die Mieten und Preise für Immobilien in die Höhe schießen.
"Für viele Leute ist das ein Problem", gibt Dobberstein mit Blick auf den neuen Trikotsponsor zu. "Wir müssen versuchen, einen Mittelweg zwischen der Kommerzialisierung und dem zu finden, was wir im Moment haben. Das ist gar nicht einfach." So versucht der Verein im bezahlten Profifußballgeschäft zu überleben, während er gleichzeitig treu zu seinen Werten steht. Schon andere Bundesligavereine haben sich schwer damit getan. Der geplante Protest gegen RB Leipzig ist in Berlin nur der erste Test.
Boykott: Ja oder nein?
Die Fans sind gespalten über den 15-minütigen Stimmungsboykott. Der Verein hat sich hinter die Anhänger gestellt, während sich die Spieler auch zu Wort gemeldet haben. Neuzugang Neven Subotic versteht die Reaktionen der Fans, "weil ich die Entwicklungen im Fußball auch nicht gut finde", während Rafał Gikiewicz in einem Instagram-Post die Fans darum bat, den Boykott noch einmal zu überdenken, den der sei "nicht gut für die Spieler".
"Ich bin dagegen, denn ich bin der Meinung, dass er dein Team schwächt", sagt Dobberstein. "Aber andererseits kann man es natürlich auch verstehen."
"Es wurde heiß diskutiert", sagt Constantin Kramer, ein anderer Fan. "Aber ich bin einer derjenigen, die dafür sind, weil Union RB Leipzig auch schon in der 2. und 3. Liga boykottiert hat."
"Es ist absolut nötig. Es wird nie wieder ein Spiel geben, das mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Für die Fans ist das eine große Chance, ein Zeichen zu setzen. Es geht keinesfalls gegen die Spieler, es geht einzig darum sich für Tradition und Werte einzusetzen." Ungeachtet des Boykotts versprechen die Fans eine emotionale Show vor dem Anstoß.
Eine große Choreographie ist geplant und viele Fans werden dank einer Initiative des Vereins Plakate mit Fotos von verstorbenen Angehörigen hochhalten.
"Das ist nur ein weiterer Beleg für das, was wir sind - ein Herzensverein", sagt Dobberstein. "Nach den 15 Minuten wird das Stadion explodieren. Dann wird jeder erleben, was es bedeutet, in der Alten Försterei zu Gast zu sein."
Auf dem Platz
Abseits der komplizierten Gemengelage auf den Rängen und neben dem Platz hat Union Berlin in der Vorbereitung extrem hart gearbeitet, um Trainer Urs Fischer zu schaffen. Union soll in der Liga gehalten werden. Nicht weniger als elf neue Spieler sind zum Team gestoßen, drei Leihspieler wurden fest verpflichtet.
Die Achse aus Subotic (zweimaliger Deutscher Meister mit Borussia Dortmund), Christian Gentner (379 Bundesligaspiele) und Anthony Ujah sorgt für viel Bundesligaerfahrung, während Marius Bülter, Marcus Invargtsen, Sheraldo Becker und Keven Schlotterbeck den Konkurrenzkampf in der Mannschaft beleben dürften.
Die Neuzugänge könnten helfen, dass die Unioner den direkten Abstieg vermeiden, aber viel wird davon abhängen, wie die Offensive funktioniert und wie schnell auch Angreifer Ujah einschlagen wird. Gleichermaßen wird auch Unions Hintermannschaft entscheidend für den Erfolg oder Nicht-Erfolg der Bundesliga-Kampagne sein. Letzte Saison mussten sie nur 33 Tore in 34 Spielen hinnehmen.
Coach Fischer wird versuchen diese Stärken als Waffe herauszubilden, damit sich die Berliner über die Saison ihre Punkte sichern.
Da Paderborn als Abstiegskandidat Nr. 1 gehandelt wird, Köln als unkalkulierbare Größe gilt und Augsburg und Düsseldorf die Qualität fehlt, ist eine zweite Bundesligasaison von Union keine Träumerei.
Gang auf dem Drahtseil
"Uns muss bewusst sein, das wir wahrscheinlich nicht mehr die gleiche Rolle haben wie noch in der letzten Saison in der 2. Liga", sagte Fischer in einem Interview. "Jetzt heißt die Zielsetzung Klassenerhalt. Das müssen wir alle hinbekommen - nicht nur die Mannschaft und der Trainer, sondern der Klub als Ganzes."
Der Protest am kommenden Sonntag wird womöglich Verachtung und Spott aus einigen Ecken auslösen, aber das ist der Weg von Union Berlin. Sie machen es zu ihren Bedingungen und sie werden dafür kämpfen, dass die Bundesliga sie kein Stück ändert.