Unkoscheres Nachtleben
27. Juni 2012 Die Party steigt im Keller einer ehemaligen Fabrik in einem Hinterhof in der Berliner Innenstadt. Die Wände sind aus roten Ziegelsteinen, an der Decke dreht sich eine Diskokugel, quer durch das Gewölbe sind Girlanden mit blau-weißen Israel-Fähnchen gespannt. Der Keller ist an diesem Samstag Treffpunkt einer Szene, die vor 60 Jahren in Deutschland doppelt stigmatisiert und verfolgt war: jüdische Schwule.
Die Partygäste stehen noch etwas verlegen auf der Tanzfläche. Der Abend steuert auf ein Uhr morgens zu als Aviv Netter, Gründer der Party-Reihe "Meschugge Berlin", seinen Auftritt hinterm DJ-Pult hat. Aviv, der sich in Anlehnung an Tel Aviv auch "Aviv without the Tel" ("Aviv ohne Tel") nennt, setzt sich energisch einen schwarzen Hut auf, an dem künstliche Gebetslocken baumeln und zieht die Lautstärke-Regler hoch. Das israelische Volkslied "Shalom chaverim" dröhnt aus den Lautsprechern - die Menge jubelt, hüpft zum Rhythmus und singt mit. Seit vier Jahren steigt die Meschugge-Party, die Räumlichkeiten haben sich in dieser Zeit geändert, aber einer ist immer dabei: DJ Aviv without the Tel.
"Das ist meine Art, mein Jüdischsein auszuleben", sagt der 26-Jährige. Er sehe sich nicht als religiösen Menschen. "Aber dennoch bin ich Jude. Das ist etwas anderes, als beispielsweise Christ zu sein. Als Jude gehörst Du immer zu einem Volk." Der Schlussakkord des hebräischen Liedes erklingt, Aviv blendet jetzt einen israelischen Popsong ein, die Menge honoriert auch diese Musikauswahl mit einem kurzen Jubel.
"Heute sind wir alle Juden!"
Zu "Meschugge Berlin" kommen nicht nur Schwule. Die ausgelassene Stimmung im ansonsten sehr techno-lastigen Berliner Nachtleben hat sich herumgesprochen. "Und natürlich kommen nicht nur Juden", sagt Aviv. Auf einer Leinwand neben der Tanzfläche erscheinen Party-Flyer von "Meschugge Berlin". "Unkosher Jewish Night" ist da zu lesen, ebenso wie "Heute sind wir alle Juden!"
Aviv weiß, dass seine Slogans provozieren. Er verlässt bewusst die Deckung, um im Überangebot des Berliner Nachtlebens aufzufallen. Feinde macht er sich dadurch nicht. Im Gegenteil: Es kämen sogar Leute auf ihn zu und gratulierten ihm zu seinem Mut. Darüber wundert sich Aviv allerdings. "Ich bin eher naiv, aber ganz bestimmt nicht mutig", kokettiert er.
Unbeschwerter Zugang zur jüdischen Kultur
Aviv Netter macht einfach, was ihm passt und gefällt - und was es im Berliner Nachtleben bisher noch nicht gegeben hat. Ausgehwütige können Balkan-Nächte und Russen-Diskos besuchen. "Aber eine Party mit jüdischer oder israelischer Musik, das gab es noch nicht. Also hab ich sie eingeführt." Im ersten Jahr findet "Meschugge Berlin" alle drei Monate statt, dann einmal monatlich, mittlerweile alle zwei Wochen. "Jedes Jahr denke ich immer, das ist der Höhepunkt, besser kann es gar nicht mehr werden. Doch es wird immer besser."
Mit 21 Jahren reist Aviv Netter das erste Mal von Israel nach Berlin und entschließt sich, hier zu bleiben. Er schwärmt vom Nachtleben. "Aus der ganzen Welt kommen Leute hierher um zu feiern." Seine Eltern haben mittlerweile akzeptiert, dass er in Deutschland lebt. Seine Mutter, die vor allem unter der großen Distanz leide, habe ihn bereits besucht - sein Vater jedoch nicht. Dann schweigt Aviv. Er möchte nicht über seine Familiengeschichte reden - Feiern und Holocaust gehören seiner Ansicht nach nicht in ein- und denselben Artikel.
Mittlerweile ist es drei Uhr morgens, "Meschugge Berlin" ist aber noch lange nicht zu Ende. Aviv ist hinter dem DJ-Pult auf eine Leiter gestiegen und feuert seine Party-Gäste an. Das ist eigentlich gar nicht nötig, es gibt kaum noch Luft zum Atmen, schwitzige Klamotten kleben an den dichtgedrängten Körpern. Unverkrampft wird hier gefeiert – Vergangenheitsbewältigungen oder Schuldgefühle sind in dieser Nacht ausgeblendet. Stattdessen tanzt die Partymenge ausgelassen zu dem hebräischen Hit "Nagali hava", was übersetzt "Lasst uns glücklich sein" bedeutet.