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Unrentable Atomkraft wird zum Risiko

Gero Rueter9. März 2015

Atomstrom wird weltweit zunehmend unrentabel. Auch für Staaten und Bürger wird dies zum Problem. Atomexperte Mycle Schneider befürchtet Pleiten in der Atomwirtschaft und sieht erhebliche Sicherheitsrisiken.

Greenpeace Brüssel Atomkraftwerk (Foto: Greenpeace).
Bild: Philip Reynaers/Greenpeace

Deutsche Welle: Herr Schneider, sie geben jährlich den World Nuclear Industry Status Report heraus. Welche globalen Trends gibt es?

Die Produktionskosten für Atomstrom sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Das ist eine dramatische Entwicklung, weil alle anderen Technologien, vor allem die erneuerbaren, stark fallende Kosten verzeichnen. Die erneuerbaren Energien sind eine ernste Konkurrenz und zudem sinkt in Europa der Stromverbrauch. Für die Betreiber von Atomkraftwerken mit gigantischen Schuldenbergen ist das ein großes Problem.

Atomkraft wird also unrentabel. Aber warum wollen dann Länder wie Großbritannien noch neue Atomkraftwerke bauen?

Alle englischen Regierungen setzten einfach nur aufs Atompferd und betrieben über Jahre keine vernünftige Energiepolitik. Nun ist die Atomkraft immer teurer geworden und man hat keine anderen, intelligenten Szenarien entwickelt.

Auch ist noch lange nicht sicher, ob das geplante Atomkraftwerk Hinkley Point gebaut werden wird. Die Verträge sind noch nicht unterschrieben. Aber die veranschlagten Kosten für den Strom aus diesen Kraftwerken sind etwa doppelt so hoch wie der durchschnittliche Strompreis im Netz heute. Sollte das Kraftwerk wirklich gebaut werden, so ist schon heute absehbar, dass zukünftige Generationen das der heutigen Regierung nie vergessen werden.

Träger des Alternativen Nobelpreis: Mycle SchneiderBild: M. Schneider

Wie reagiert der Finanzsektor?

Heute gibt es keine kommerzielle Großbank die Atomkraftwerke finanziert. Es gibt ganz wenige Ausnahmen, und das sind Einzelprojekte, zum Beispiel in China. Alle Ratingagenturen bewerten heute die Investition in ein neues Atomkraftwerk negativ für Kredite. Umgekehrt wird der Ausstieg aus Atomtechnologie positiv bewertet, zum Beispiel bei der Firma Siemens.

In England muss sich erst noch zeigen, wer dort wirklich investieren will. Zehn Prozent dieses Projekts sollten vom französischen Staatskonzern AREVA finanziert werden. Doch dieser hat kein Geld und allein 2014, bei acht Milliarden Euro Umsatz, einen Verlust von knapp fünf Milliarden Euro eingefahren. Wie soll dieser Konzern Kapital für Hinkley Point aufbringen? Das steht alles noch auf sehr tönernen Füßen.

Was ist Ihre Prognose?

Ich gehe davon aus, dass Hinkley Point nie ans Netz gehen wird. Es ist noch nicht bewiesen, dass der geplante Reaktortyp überhaupt funktionsfähig ist. In England und Frankreich haben sich die Regierungen allerdings so weit aus dem Fenster gelehnt, dass mit den Bauarbeiten vielleicht sogar begonnen wird. Ich halte es jedoch für nicht denkbar, dass in zehn, zwölf oder 15 Jahren ein Atomkraftwerk überhaupt noch fertiggestellt werden wird.

In Europa?

Man muss einfach ganz klar sagen, dass man weltweit unter marktwirtschaften Bedingungen kein Atomkraftwerk mehr bauen kann. Das heißt, wenn eins gebaut wird, dann geht es nur mit hohen Subventionen, wo immer diese auch herkommen.

Die Produktion von Strom aus neuen Atomkraftwerken ist im Vergleich zu allen anderen Technologien teurer. Hinzu kommen noch die volkswirtschaftlichen Kosten, die vor allem durch Unfälle entstehen.

In Russland, Frankreich, USA, China und Japan gibt es Atomindustrien und es gibt Meldungen von geplanten Atomkraftwerken weltweit. Was sind die Fakten?

Die Anzahl der Bauprojekte ist so gering, dass wenige Baukonzerne davon leben können. Ende 2014 hat die Ratingagentur Standard & Poor's AREVA, das sich für den größten Atombaukonzern hält, auf "Junk"-Niveau, also auf spekulativ, heruntergestuft. Dieser Atomkonzern gehört zu 87 Prozent dem französischen Staat. Viele Investoren wie Pensions- und Rentenfonds dürfen jetzt hier nicht mehr investieren.

Und auch Atomenergoprom, die Filiale der russischen Rosatom, wurde von der Ratingagentur Moody's vor ein paar Tagen auf "Junk" herabgestuft. Also die Finanzwelt bewertet die Atomunternehmen ausgesprochen schlecht, egal in welchem Land. Es gibt für diese Unternehmen keine guten Aussichten.

Hat die Atomindustrie verloren?

Eine Perspektive für den weltweiten Ausbau der Atomkraft gibt es nicht mehr. Das ist eindeutig vorbei. Aber die Atomindustrie hat eine unglaublich schlagkräftige Lobby. Und sie gibt Unsummen für Werbung und Propaganda aus. Und moderne Propaganda funktioniert.

Wie?

Es ist eine hochkomplexe Propaganda - und es geht um viel Geld. Auch Korruption spielt hier eine große Rolle. Es gibt Leute, die sagen, dass der einzige Grund für den weiteren Bau von Atomkraftwerken in China Korruption ist. Und ein osteuropäischer Korruptionsspezialist fand in einer Studie heraus, dass das Korruptionsrisiko bei Atomkraftwerken besonders groß ist.

Das weltweite Durchschnittsalter der Atomreaktoren liegt bei 29 Jahren. Nun müssen immer mehr alte Reaktoren abgebaut werden. Haben die Betreiber dafür genug Geld?

Dieser Faktor wird völlig unterschätzt. Eines der größten Probleme ist, dass heute viele Atomkraftwerke eigentlich aus dem Betrieb genommen werden müssten. Aber davor scheuen sich viele Betreiber, denn dann muss die Abrisskasse aufgemacht werden, viel früher als das eigentlich geplant war. Bilanzen müssten so bereinigt werden und unter Umständen würden einige Betreiber bankrott gehen.

Protest in Japan gegen die AtomkraftBild: Reuters

Frankreich ist weltweiter Vorreiter der Atomenergie. Sie leben dort, was sind die Folgen der Entwicklungen?

Da kommen dramatische Zeiten auf die Regierung, Atomfirmen und die Bevölkerung zu. Das ist ganz eindeutig. Frankreich hat einfach alles auf eine Karte gesetzt und verloren.

Jetzt wird der Atomstrom teuer. Die Stromtarife decken nicht mehr die Kosten der Betreiber.

Aber die Erhöhung der Strompreise ist unpopulär und die unpopuläre Regierung zögert die Strompreiserhöhung hinaus. Das Problem wird aber nur in die Zukunft verschoben.

Welche Sprengkraft steckt dahinter?

Es ist eine finanzielle Zeitbombe mit erheblichen Risiken für die Sicherheit. Und das macht mir wirklich Sorgen. Der staatliche Atomkonzern AREVA baut und betreibt Atomanlagen und ist verantwortlich für die radiologisch umweltverschmutzendste Anlage der Welt, die Wiederaufbereitungsanlage in La Hague. Dort sollen 500 Stellen gestrichen werden. Wenn AREVA finanziell bankrott ist und ums Überleben kämpft, dann wird an allen Ecken und Enden gespart werden. Das ist kein gutes Omen für die höchst notwendige Sicherheit.

Weil es der Atomwirtschaft zunehmend schlechter geht, wachsen also die Gefahren?

Genau so ist das. Und deshalb bin ich sehr beunruhigt. Es gibt ja auch immer wieder neue Sicherheitsthemen. In Belgien wurden in den letzten Monaten Tausende von Rissen in den Reaktordruckbehälter entdeckt. Vor drei Jahren erlebten wir in Südkorea, dass für Tausende von Anlagenteilen die Qualitätskontrollzertifikate gefälscht waren. Etliche Atomkraftwerke mussten abgestellt werden. Und auch in Japan gab es schon vor zehn Jahren einen riesen Fälschungsskandal und alle 17 Atomkraftwerke von Tepco standen still.

Und dann gibt es ganz neue Probleme. In Frankreich flogen über 40 Mal Drohnen über Atomanlagen, teilweise simultan über fünf verschiedene Atomanlagen. Das ist hochkomplex. Wer macht das? Bis heute weiß niemand, wer das war. Die Regierung sagt, dass es keine Gefahr gibt und wischt das Thema einfach vom Tisch.

Sie haben auch die globale Energiewirtschaft im Blick und hier gibt es viele Veränderungen. Was kommt da in den nächsten Jahrzehnten auf uns zu?

Wir sind mitten in einer Revolution. Interessant sind die neuen Analysen der großen Finanzinstitute, etwa der Deutschen Bank, der Citi, der Lazard und der UBS, der größten Schweizer Bank.

Die UBS rechnete aus, dass eine Solaranlage auf dem Dach mit Batterie im Keller und einem strombetriebenen Fahrzeug im Jahr 2020 für viele Menschen rentabel wird. Solche Entwicklungen würden das Energiesystem total verändern.

Und die Deutsche Bank schätzt, dass selbsterzeugter Solarstrom in vielen Ländern der Welt bereits heute günstiger ist als der aus dem Netz. Das heißt, dass die Regeln der zukünftigen Energiemärkte mit denen von heute nichts mehr zu tun haben werden.

Was bedeutet das für die Atomwirtschaft?

Eine Katastrophe.

Der Energie- und Atomexperte Mycle Schneider beobachtet seit über 30 Jahren die Entwicklung der globalen Atomindustrie und ist Herausgeber des jährlich erscheinenden World Nuclear Industry Status Report. Schneider hat an zahlreichen Universitäten und Ingenieurschulen gelehrt und arbeitet als unabhängiger Berater für Regierungen und internationale Organisationen auf der ganzen Welt. 1997 bekam er den Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award).

Das Interview führte Gero Rueter.

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