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"Unter Palästinensern herrscht eine enorme Frustration"

Kersten Knipp12. Oktober 2015

Die palästinensischen Messerattacken auf Israelis sind nach Einschätzung der Politologin Sylke Tempel kein Ausdruck einer konzertierten Aktion. Ohne Kompromissbereitschaft werde sich der Konflikt nicht lösen lassen.

Ein demonstrierender Palästinenser im Westjordanland, 12.10.2015 (Foto: AFP/Getty Images))
Bild: Getty Images/AFP/A. Momani

DW: Frau Tempel, sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen scheinen die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern derzeit zu eskalieren. Gibt es einen Grund, dass die Situation sich gerade jetzt so zuspitzt?

Sylke Tempel: Nein, es ist nichts passiert, was als direkter Auslöser gelten könnte – so wie etwa bei der zweiten Intifada, die angeblich dadurch ausgelöst wurde, dass der damalige Premier Ariel Sharon den Tempelberg besucht hat. Von Gaza kommen immer wieder Raketen. Doch die nehmen wir nur dann wahr, wenn es eine israelische Reaktion, sprich: eine Abschreckungslogik darauf gibt. Hinzu kommt, dass es in Gaza sehr unterschiedliche Gruppierungen gibt. Wenn die Hamas entscheidet, erst einmal keine Raketen abzuschießen, heißt das noch lange nicht, dass sich der islamische Dschihad daran hält. Die Frage ist eher, ob der islamische Dschihad den Wächtern von Hamas durchrutscht.

Und wie bewerten Sie die Lage in Ost-Jerusalem und im Westjordanland?

Natürlich herrscht unter den Palästinensern eine enorm große Frustration. In den vergangenen Monaten und Jahren hat sich nichts für sie geändert. Abbas hat ja auf die Strategie gesetzt, die Anerkennung der Palästinenser auf dem Weg über die UN zu erreichen. Aber die normalen Palästinenser in Ramallah oder Dschenin haben im täglichen Leben erst mal gar nichts davon, dass vor den UN nun die palästinensische Fahne weht. Ich gehe davon aus, dass die derzeitigen Messerattacken keine konzertierte Aktion, sondern Ausdruck einer angestauten Frustration sind. In solchen Fällen kommt es sehr darauf an, wie Israel reagiert: ob es deeskalierend eingrifft oder die Dinge im Gegenteil weiter eskalieren lässt.

"Dschihad als Instant-Lösung": Sylke TempelBild: DW

Zumindest einer der Messer-Attentäter der vergangenen Woche hat sich zu einer dschihadistischen Organisation bekannt. Könnte der Dschihadismus nach Art des "Islamischen Staats" (IS) auch auf die palästinensischen Autonomiegebiete überspringen?

Teile der Palästinenser sind bereit, sich zu radikalisieren. Das liegt vor allem daran, dass die klassischen Vertreter - die PLO und in gewissem Sinn auch die Hamas - den Konflikt nicht haben lösen können. Das ist natürlich nicht erstaunlich. Denn die Dschihadisten, seien es die des IS oder die von Al-Kaida, haben eine sehr raffinierte Propagandastrategie. Sie vermögen es, junge Palästinenser anzusprechen – und zwar ganz gleich, in welchen sozialen Verhältnissen sie leben, ob sie etwa Arbeit haben oder nicht. Hinzu kommt: Manche Palästinenser bewaffnen sich mit einem Messer, weil sie etwas verändern wollen. Dafür bieten sich dschihadistische Ideologien an. Denn die sind bis zu einem gewissen Grad romantisch: Denen, die ihnen anhängen, bieten sie die Instant-Lösung für alle Probleme dieser Welt an.

Nun gibt es ja komplexere Herangehensweisen, etwa die Rede des palästinensischen Regierungschefs Mahmud Abbas von den UN oder der Versuch, die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen zu erhalten. Was bringt das denn?

Mit Blick auf die Gesamtlage sehe ich sowohl bei der israelischen Regierung als auch bei der hochgradig unstabilen Lage rundherum keine Möglichkeiten, noch einmal eine große diplomatische Offensive zu starten. Viele dieser Vorschläge sind übrigens an der palästinensischen Seite gescheitert.

Inwiefern?

Vorausschickend sei gesagt, dass sie unter extrem schwierigen Umständen leben. Denn die Besatzung existiert ja weiter. Die Israelis sind in der Westbank massiv präsent, sowohl in Form von Siedlungen als auch des Militärs. Davon abgesehen haben es die Palästinenser aber versäumt, staatliche Strukturen zu errichten. Die reichen von einer funktionierenden Müllabfuhr bis hin zu einer Polizei, die etwa Strafzettel ausstellt. Da haben die Palästinenser bislang erhebliche Versäumnisse.

Zweitens sind die Verhandlungen oft an psychologischen Faktoren gescheitert. Wenn man Flüchtlingen, die in der vierten Generation und unter äußerst schwierigen Umständen in Flüchtlingslagern leben, sagt, sie hätten umsonst gelitten, da sie nicht in ihre Ursprungsdörfer, sondern in einen Staat Palästina zurückkehren werden - aber eben nicht in das ehemalige Land Palästina -, ist das sehr schwer zu akzeptieren.

Hinzu kommt: Man muss eine grundsätzliche Barriere überwinden. Denn die Palästinenser finden es grundsätzlich ungerecht, dass der Staat Israel jemals gegründet wurde. Und in der Tat blieben sie ja mit einem Rumpfstaat von 27 Prozent des damaligen Mandatsgebiets zurück. Insofern fällt es ihnen schwer, sich auf ihren eigenen Staat zu konzentrieren, in dem sie ja irgendwann Herr im eigenen Haus sein könnten. Diese psychologische Hürde haben die Palästinenser nie überwunden.

Im Zweifel gegen den Staat: radikaler Siedler im WestjordanlandBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb/J. Hollander

Israel ist ein jüdischer und somit eben auch ein religiös fundierter Staat. Ist dieser religiöse Aspekt als Faktor im Nahostkonflikt womöglich zu wenig beachtet worden?

Ursprünglich, nach den Vorstellungen der Staatsgründer, sollte Israel kein religiöser Staat sein. Ebenso sollte das Land sich auch nur annähernd nicht in Richtung eine Theokratie entwickeln. Die Definition war: Israel ist ein Staat, dessen Bevölkerung mehrheitlich jüdisch sein sollte. Und dieser Umstand ist für das Lebensgefühl viel wichtiger als das religiöse Gefühl. Allerdings ist vor allem nach 1967 eine messianische Bewegung der Nationalreligiösen entstanden, für die die Besiedlung Judäas und Samarias, wie sie die Westbank nennen, ein göttlicher Auftrag ist. Diese Bewegung halte ich nicht nur für eine enorme Gefahr für die Palästinenser und ihren Anspruch, in diesem Gebiet einen eigene Staat zu gründen. Ebenso gefährlich halte ich sie für die Grundlagen des jüdischen Staates Israel. Denn angenommen, Palästinenser und Israelis hätten sich geeinigt, zwei eigenständige, von einander unabhängige getrennte Staaten zu begründen: Würde zu dieser Frage dann ein Referendum abgehalten, dann bin ich mir sicher, dass eine kleine und zu allem bereite Minderheit den Wunsch, in den Hügeln Samarias zu sitzen, über das Staatswesen Israel stellt. Inzwischen ist unter den Radikalen eine Jugend herangewachsen, die diesen Kompromiss, den ein Staat durch eine Mehrheit beschließt, nicht akzeptiert, sondern sich radikal gegen den eigenen Staat wendet.

Was würden sie als das Hauptproblem des Konflikts bezeichnen?

Wer in Israel und den palästinensischen Gebieten glaubt, der Status quo sei auf Dauer zu erhalten, der hat die Geschichte seines eigenen Landes nicht studiert. Wer glaubt, er könne einen Kompromiss umgehen oder sich auf einen faulen Kompromiss wie einen gemeinsamen Staat mit zwei kulturell völlig unterschiedlichen Bevölkerungsanteilen, die sich zudem seit 120 Jahren die Köpfe einschlagen, einlassen, der gibt sich einer Illusion hin. Wer nicht einsieht, dass am Ende einzig der Kompromiss zu etwas führt, der wird wieder und wieder Katastrophen erleben.

Sylke Tempel ist deutsche Journalistin und Buchautorin. Seit 2008 ist sie Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik".

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