EU am Scheideweg: Großkonzerne for Future?
11. Juni 2025
In einem offenen Brief hatten Ende Mai rund 150 Unternehmen gefordert, die Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union bis 2040 um mindestens 90 Prozent zu reduzieren. Ihr Argument: Ein robustes Klimaziel und die Dekarbonisierung der Volkswirtschaften verbesserten die Widerstandsfähigkeit, Energiesicherheit und Wettbewerbsfähigkeit.
Die Unterzeichner sind Mitglieder der Corporate Leaders Groups, die vom Institute for Sustainability Leadership der University of Cambridge einberufen werden.
Der Brief ist an die Europäische Kommission, die Abgeordneten des Europaparlaments sowie die Staats- und Regierungschefs der EU adressiert. Zu den Unterzeichnern zählen große Konzerne, unter anderem SAP, die Otto-Gruppe und die Allianz.
Bislang hat die EU als Ziel festgeschrieben, ihre CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken und bis 2050 klimaneutral zu werden. Ein verbindliches Zwischenziel für 2040 existiert noch nicht.
Gefährdet Zögern der EU den Wettlauf um den grünen Welthandel?
Deutliche Zwischenziele könnten den Unternehmen mehr Klarheit geben. Und für Investoren signalisieren, ob Europa weiter auf Klimakurs ist. Denn daran gibt es inzwischen Zweifel. Die EU-Kommission hatte zuletzt einige Direktiven wieder zur Diskussion gestellt. Vorgänge sollen vereinfacht werden.
Ob es dabei bleibt oder hier durch die Hintertür bereits beschlossene Regelungen aufgeweicht werden sei derzeit "unvorhersehbar", so Manon Dufour. Das ließe die Investoren zögern, so die Geschäftsführerin des Brüsseler Büros des internationalen Think-Tanks E3G, spezialisiert auf internationale Klimadiplomatie.
Für Dufour ist klar: Hinter den Forderungen der Firmen nach mehr Klimaambitionen steckt die Hoffnung, dass sich daraus ein Wettbewerbsvorteil für Unternehmen in der EU ergibt. Vor dem Hintergrund massiver grüner Investitionen in China, sei "die technologische Wende in Europa kein rein europäische Projekt mehr", sondern im Kontext des globalen Wettbewerbs zu sehen.
"In einigen Sektoren dürfte es für Europa etwas schwierig sein, seinen Wettbewerbsvorteil zu behaupten. In anderen Sektoren hingegen ist Europa sehr gut aufgestellt," sagt Dufour.
Europa sei führend in allen Bereichen, die mit Netz- oder Kabeltechnologien zu tun haben, sowie in einigen Bereichen der CCS-Technologie, mit der CO2 aus Industriebetrieben abgeschieden und gespeichert wird. "Hier könnte Europa noch gewinnen."
Politik wirkt: mehr Unternehmen haben Klimaziele
Dass inzwischen auch immer mehr Unternehmen die EU zu entschiedenere Maßnahmen aufrufen, ist kein Zufall.
Seit der Einführung des EU Green Deal 2019 wurden hunderte Milliarden Euro in grüne Technologie und Industrie investiert und etliche Regulierungen für nachhaltigeres Wirtschaften verabschiedet. Seitdem hat sich europaweit ein tiefgehender Wandel in der Haltung der Unternehmerseite zur Klimapolitik vollzogen.
Eine Analyse der gemeinnützigen Organisation InfluenceMap mit Sitz im Vereinigten Königreich kommt zu dem Schluss: diese Politik wirkt.
Heute orientieren sich 23 Prozent der Unternehmen in der EU an Strategien, die zur Erreichung der Klimaziele führen würden. 2019 lag dieser Wert noch bei drei Prozent. Gleichzeitig ging der Anteil der Unternehmen, die als "nicht klimagerecht" eingestuft wurden, von 34 Prozent auf 14 Prozent zurück.
Klimapolitik im Eigeninteresse vieler Unternehmen
Das im offenen Brief geforderte Ziel 90 Prozent weniger Emissionen bis 2040 "gäbe uns einen klaren Kurs vor, um unsere Maßnahmen und Investitionen zu auszubauen, um zu nachhaltigeren Geschäftsmodellen überzugehen und unsere Emissionen rasch zu senken." Letztendlich sei das Klimarisiko ein wirtschaftliches und finanzielles Risiko, so der offene Brief der Cooporate Leaders Group.
Laut dem Sustainability Report der Beratungsgesellschaft Deloitte berichteten bereits 2022 fast alle befragten Führungskräfte in Deutschland (97 Prozent), dass ihr Unternehmen bereits negativ vom Klimawandel beeinflusst wurde.
50 Prozent sagten, dass ihre Betriebsabläufe – wie zum Beispiel Störungen der Geschäftsmodelle oder der weltweiten Versorgungsnetze – direkt mit Ereignissen des Klimawandels zusammenhingen.
Schwerindustrie: klimaneutral ja, aber nicht zu schnell
Dessen ungeachtet stellte das deutsche Bundesumweltamt 2021 in einer Untersuchung fest, dass nur die Hälfte der deutschen Dax-Unternehmen zu den ökonomischen Risiken der Klimakrise berichten.
Die jüngste Deloitte-Umfrage von 2024 zeigt: Der Großteil der über 2000 befragten Führungskräften aus 27 Ländern weltweit priorisiert inzwischen das Thema Nachhaltigkeit in ihren Entscheidungen. 85 Prozent der Befragten gaben an, ihre Investitionen in den Bereich zu erhöhen, gegenüber 75 Prozent im letzten Jahr.
Dennoch sprechen in Brüssel auch jene vor, die weniger ambitionierten Klimaschutz bis 2040 fordern. Dazu gehören vor allem Unternehmen der europäischen Schwerindustrie, die deutsche Chemieindustrie, der Bund der deutschen Industrie, die europäische Zementindustrie, Öl- und Gaskonzerne.
Eine verzögerte Transformation der Wirtschaft wird dabei nicht nur Unternehmen treffen und Steuerzahlende Unsummen angesichts der Schäden der Klimakrise kosten.
Eine Studie von Wissenschaftlern des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) zeigt: Selbst wenn Treibhausgas-Emissionen ab heute drastisch reduziert würden, würde das globale Pro-Kopf-Einkommen bis 2050 um 19 Prozent schrumpfen.
Das entspricht rund 38 Billionen Dollar jährlich, also etwa dem sechsfachen der geschätzten Kosten für Klimaschutzmaßnahmen.
Entkopplung von Wachstum und CO2-Emissionen
Weltweit findet derweil eine Entkopplung des Wachstums von CO2-Emissionen statt. Von 2015 bis 2022 wuchs das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 22 Prozent, während die Emissionen nur um sieben Prozent zunahmen. Dabei steigerten über 40 Länder ihr BIP und senkten gleichzeitig die Emissionen. Das zeigt eine Studie der OECD und den Vereinten Nationen von 2025. Diese Entwicklung hat seit den 1990 Jahren immer weiter Fahrt aufgenommen.
Die Investitionen in saubere Energie sind heute doppelt so hoch wie die in fossile Brennstoffe und bieten erschwingliche Klimalösungen, Innovation, Arbeitsplätze und Wachstum, heißt es darin. Die Märkte für saubere Energien seien rasch gewachsen, zunächst durch die Politik und dann durch die Marktnachfrage. Heute gebe es für 87 Prozent der Weltwirtschaft Netto-Null-Ziele.
Dabei haben sowohl Regierungen wie auch Regionen, Städte und Unternehmen Maßnahmen zur Begrenzung ihrer Treibhausgasemissionen ergriffen.
Gleichzeitig lasse derzeit das Momentum für Klimaschutz nach. "Eine unklare Politik birgt die Gefahr, dass sich private Investitionen verzögern und das BIP bereits 2030 um 0,75 Prozent sinkt," so die Autorinnen und Autoren.
Letztes Jahr empfahl die Europäische Kommission, die Emissionen bis 20240 um mindestens 90 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Der entsprechende Gesetzesvorschlag wird noch vor der Sommerpause erwartet.
Er muss dann aber noch von den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament verhandelt werden. Einige Mitglieder des Europäischen Parlaments haben Bedenken geäußert, dass das vorgeschlagene Ziel zu ehrgeizig sein könnte. Das sehen immer größere Teile der Wirtschaft offenbar anders.