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Untersuchung: Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland

20. April 2023

Sind Vorurteile oder Hass auf Juden unter Muslimen oder Menschen mit Migrationshintergrund stärker verbreitet? Die Forschungslage ist oft widersprüchlich.

Mögliche Gefährdungslage an Synagoge in Hagen
In Deutschland werden jüdischen Einrichtungen, wie die Synagoge in Hagen, polizeilich geschütztBild: Henning Kaiser/dpa/picture alliance

Karsamstag, mitten in Berlin, eine Palästinenserkundgebung mit mehreren hundert Menschen. Mitglieder des Vereins democ, der demokratiefeindliche Bewegungen unter die Lupe nimmt, beobachten den Demonstrationszug und veröffentlichen später ein Video. Laut democ wurde von Teilnehmern mehrfach "Tod, Tod, Tod Israel" skandiert. Zudem habe ein Mann vom Lautsprecherwagen aus "Tod den Juden!" gerufen.

Der Staatsschutz ermittelt, zwei geplante pro-palästinensische Demonstrationen wurden kurz danach verboten, und der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, sah durch die Demonstranten "jede mögliche rote Linie" überschritten. Auf Twitter schrieb er, die Teilnehmer hätten die Freiheiten in Deutschland missbraucht, um "zur Vernichtung Israels und der Juden" aufzurufen. Für Bundesjustizminister Marco Buschmann besteht ein Anfangsverdacht auf Volksverhetzung.

Forschungslage vergleichsweise dünn

Solche Demonstrationen sind Wasser auf die Mühlen derjenigen, die meinen, der Antisemitismus bei Muslimen und Musliminnen sowie von Menschen mit Migrationshintergrund sei wesentlich stärker ausgeprägt als bei Menschen ohne Migrationshintergrund und Nicht-Muslimen. Doch Sina Arnold vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität (TU) Berlin sagt: "Je nachdem, welche Art von Antisemitismus man sich anschaut, weisen Menschen mit Migrationshintergrund und Muslime eine höhere oder geringere antisemitische Einstellung auf als Personen ohne Migrationshintergrund oder Nicht-Muslime." Pauschale Aussagen über den Antisemitismus in den untersuchten Bevölkerungsgruppen könne man nicht treffen. Für die TU Berlin im Auftrag des Mediendienstes Integration hat sie sich die wichtigsten Untersuchungen zum Thema angeschaut und zusammengefasst.

"Antisemitismus äußert sich ja nicht nur in einer Einstellung, sondern auch als Handlung" - Sina ArnoldBild: Ruthe Zuntz

Arnold ist auch Projektleiterin am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt und untersucht seit Jahren Einstellungen zum Judentum, zum Holocaust und zum Nahost-Konflikt. Dabei geht sie der Frage nach, was die Ursachen von antisemitischen Einstellungen bei Geflüchteten und anderen Zugezogenen sind. Ein beinahe neues Feld, denn die Forschungslage zu dieser hochbrisanten Thematik ist bislang noch vergleichsweise dünn. Dagegen gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Antisemitismus ein weit verbreitetes Phänomen in der gesamten deutschen Gesellschaft ist.

Israelbezogener Antisemitismus von Aufenthaltsdauer abhängig

Antisemitische Vorfälle wie kurz vor Ostern in Berlin zählen zur Kategorie israelbezogener Antisemitismus. Wenn also etwa die Politik Israels mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird, Juden weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden oder das Existenzrecht Israels aberkannt wird. Dieser sei, so fasst Arnold die Studienlage zusammen, bei Menschen mit Migrationshintergrund weiter verbreitet als bei Menschen ohne Migrationshintergrund.

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"Die Studien sehen bei Menschen mit Migrationshintergrund Zusammenhänge mit der Dauer des Aufenthalts. Die höhere Zustimmung zu antisemitischen Aussagen schwindet, je länger Migranten und Migrantinnen in Deutschland leben", erklärt Arnold den sogenannten Akkulturationseffekt, "also ein Angleich an das offizielle Tabu von Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft".

Sekundärer Antisemitismus bei Muslimen schwächer ausgeprägt

In einigen Herkunftsländern sei Antisemitismus zudem weiter verbreitet als in Deutschland und oftmals auch Teil der staatlichen Propaganda. Auch bei Muslimen und Musliminnen sei der israelbezogene Antisemitismus stärker ausgeprägt. "Die Erklärungsmuster sind die religiöse Orientierung, die autoritär konservative Einstellung und die regionale und nationale Herkunft. Also ein institutioneller Antizionismus, der in manchen dieser Regionen vorkommt", sagt die Antisemitismus-Expertin.

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Ein vollkommen anderes Bild zeigt sich indes beim sekundären Antisemitismus. Wenn also der Holocaust relativiert oder geleugnet, ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gefordert oder auch eine rhetorische Umkehr von Opfern und Tätern geäußert wird. "Dieser ist tendenziell unter Menschen mit Migrationshintergrund weniger verbreitet, auch unter Muslimen und Musliminnen, weil diese Form des Antisemitismus eine Auseinandersetzung mit der eigenen deutschen Familiengeschichte beinhaltet, die für Menschen mit Migrationsgeschichte weniger relevant sein mag", sagt Arnold.

Studienlage zu klassischem Antisemitismus widersprüchlich

Die dritte Kategorie ist der klassische Antisemitismus. Ein Vorurteil oder eine Weltsicht, in welcher Juden und Jüdinnen bestimmte biologische, "rassische" oder kulturelle Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Stereotype verbinden sich häufig zu Verschwörungstheorien. "Hier ist die Forschungslage tatsächlich widersprüchlich. Es gibt Studien, die finden höhere, andere ähnliche, wieder andere niedrigere Werte bei Menschen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund", sagt Arnold. "Am höchsten ist der Antisemitismus aber bei Personen mit Migrationshintergrund, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben."

Antisemitismus werde hier sowohl zur Generationen- als auch zur Herkunftsfrage. Einwanderer stimmen zum Beispiel antisemitischen Aussagen häufiger zu als ihre eingebürgerten Kinder. Große Unterschiede gebe es auch im Hinblick auf die Heimatländer. "Die Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen sind geringer für Menschen mit Migrationshintergrund aus EU-Mitgliedsstaaten im Vergleich zu Menschen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund."

Aufklärung über Nahostkonflikt gefragt

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, begrüßt die Studie. "Alles, was differenziert und beleuchtet, bringt uns in der Debatte weiter", sagt er der DW. Die Studie hinterfrage die Zuordnung, dass Muslime generell eine Affinität zu Antisemitismus aufwiesen. Diese Darstellung, so Mazyek, erschwere aufklärerische Strukturen innerhalb der muslimischen Community. Dabei könnten Glaube und Religion "geradezu ein Vehikel dafür sein, aufzuklären und mit Stereotypen, mit Vorurteilen, mit Rassismus und Antisemitismus aufzuräumen".

Auch der Besuch von Holocaust-Gedenkstätten helfe im Kampf gegen Antisemitismus, sagt Aiman MazyekBild: Christoph Strack/DW

Im Kampf gegen Antisemitismus sei neben der Auseinandersetzung mit dem Holocaust auch die Aufklärung über den Nahostkonflikt wichtig. "Wir haben nun mal Menschen mit muslimischem Hintergrund, die von diesem Konflikt direkt betroffen sind. Da muss ich mich auch damit auseinandersetzen." Das könne dazu führen, dass Menschen "nicht aufgrund der aktuellen politischen Lage in Antisemitismus oder Judenfeindlichkeit verfallen".

Parallelen zu Einstellungen von AfD-Wählern

Für die über fünf Millionen Muslime und Musliminnen in Deutschland würde sich, so Arnolds Untersuchungen, ergeben, dass die Zustimmungswerte zu klassischem Antisemitismus allgemein höher seien als bei Nicht-Muslimen. Neben der dogmatisch-fundamentalistisch oder traditionell-konservativen Auslegung der Religion sowie dem arabischen Nationalismus gelten hierbei auch die persönliche Betroffenheit aufgrund des Nahost-Konflikts als Erklärungsansätze.

Der "Berlin-Monitor" kam 2019 übrigens zu dem interessanten Fazit, dass sich Muslime mit antisemitischen Ressentiments "hinsichtlich ihres Werte-Kanons und Einstellungspotentials von konservativen und autoritären Kreisen der (nicht-muslimischen) deutschen Bevölkerung nicht unterscheiden" -  also etwa zu einigen AfD-Wählern, da Antisemitismus weniger Auswirkung der Religion als von konservativ-autoritären Einstellungen sei.

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