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Musik

Uraufführung nach 91 Jahren

Rick Fulker
29. September 2019

Nach einem sensationellen Notenfund kam in der Düsseldorfer Tonhalle eine ganz besondere Komposition zur Erstaufführung. Für die Nachkommen einer Familie, die im NS-Regime Unrecht erfuhr, war es eine späte Genugtuung.

Düsseldorf | Theo Kreiten Konzert des Orchesters der Landesregierung in der Tonhalle
Bild: Günter Plewnia

Lebenslust und Leichtigkeit aus den wilden Zwanzigern - man fühlt sich an George Gershwins launige Melodie-Eingebungen erinnert. Immer wieder sind zarte, impressionistische Klänge zu hören, die dann durch hämmernde Klavierverläufe unterbrochen werden. Ein Thema wird vorgestellt und bearbeitet, wandert dann von der Bassklarinette zum Kontrabass oder von der Pauke zum Klavier. Aus dem Orchester kommen immer wieder unvermittelte Ausbrüche. Ein Fugato verrät das kompositionstechnische Können des Tonsetzers. Viele stilistischen Wechselbäder und Episoden, die wie Filmmusik klingen, führen zu einem furiosen Finale.

"Es war für mich eine sehr emotionale Sache", so Gilbert von Studnitz im DW-Interview. "So ein energiegeladenes Programm zu hören und zu wissen, dass mein Großvater der Komponist war: Da wurden meine Augen feucht." Der Enkel des Komponisten Theo Kreiten ist eigens von seiner Heimat nahe der US-Stadt San Francisco nach Düsseldorf gereist, um die Uraufführung der "Fantasie für Klavier und Orchester" zu hören - und zwar ganze 91 Jahre nach deren Entstehung.

Gilbert von Studnitz hört bei der Probe zuBild: Günter Plewnia

Musik zum ersten Mal erleben

Ein Stück komponierter Musik zum allerersten Mal zu hören, hat Seltenheitswert. Umso mehr, wenn es Energie aus einem anderen Zeitalter versprüht. Eben diese Erfahrung durften Zuhörer am 28. September in der Düsseldorfer Tonhalle bei der Uraufführung der "Fantasie für Klavier und Orchester" von Theo Kreiten machen. Gespielt wurde sie vom Orchester der Landesregierung Düsseldorf (OdL) unter der Leitung von Christian Ludwig. Solist war Philipp Scheucher, Gewinner des Karlrobert Kreiten-Klavierwettbewerbs in Köln.

Karlrobert Kreiten? War nicht gerade von Theo Kreiten die Rede? Die Zeitgeschichte verdichtet sich: Karlrobert war der Sohn des Komponisten und einer der begabtesten jungen Pianisten der Zeit. Wegen kritischer Äußerungen gegen das NS-Regime wurde er denunziert, an die Gestapo ausgeliefert und am 7. September 1943, im Alter von 27 Jahren, im Gefängnis Plötzensee in Berlin hingerichtet.

Hätte einer der ganz Großen werden können: Der Pianist Karlrobert Kreiten Bild: picture-alliance/dpa

Auch diese Geschichte machte die Beschäftigung mit der Klavierfantasie seines Vaters zu einer emotionalen Angelegenheit, sagt Heike Lindner der DW. Lindner ist Professorin für Religionspädagogik an der Universität Köln und Stimmführerin der zweiten Geigen im Laienorchester. "Nach den Gesprächen mit dem Enkel des Komponisten, als wir die Hintergrundinformationen zur Situation der Künstler in der Zeit der Weimarer Republik und danach erfuhren, spielten wir ganz anders", so Lindner.  

Ein Musikstück auf verschlungenen Wegen

Der Düsseldorfer Komponist, Pianist und Dozent Theo Kreiten, 1887 geboren, hatte 1928 in der Düsseldorfer Tonhalle ein zweisätziges Klavierkonzert aus eigener Feder aufgeführt. Ein Musikkritiker, der dabei war, riet ihm, den ersten Satz zu kürzen. Der Komponist nahm den Rat an - mehr noch: er strich den ersten Satz ganz und arbeitete dann den zweiten Satz zu ebendieser "Fantasie für Klavier und Orchester" um.

Theo Kreiten schrieb beschwingte, jedoch vielschichtige MusikBild: Privat

Das war das Ende der Geschichte - bis jetzt. Im vergangenen Jahr fiel der Geigerin und dem OdL-Vorstandsmitglied Bianca Petzinka bei der Inventarisierung des Orchester-Notenbestands ein rot gebundener Notenband in die Hand. Musikwissenschaftler an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln konnten ihn identifizieren: Es handelte sich um die verschollen geglaubte Fantasie. "Die Partitur war in sehr gutem Zustand, ganz ohne Flecken - als ob sie nie benutzt worden war, sondern einfach direkt am Schreibtisch zugeklappt wurde", sagt Lindner. "Das Werk war aufführungsbereit. Im Grunde mussten die Noten jetzt nur abgeschrieben werden." Wie die Noten in den Besitz des Orchesters kamen, ist unbekannt.

Ein von der Trauer gebrochener Komponist

Am Vorabend des Konzerts wurde eine Gedenktafel zu Ehren von Theo und Karlrobert Kreiten im Düsseldorfer Südfriedhof enthüllt. Schon vorher waren Straßen in Düsseldorf, Köln und Bonn nach dem Pianisten benannt worden, ebenso der besagte Klavierwettbewerb an der Kölner Musikhochschule.

Gedenktafel im Düsseldorfer SüdfriedhofBild: Orchester der Landesregierung Düsseldorf e.V./Meyer

Karlroberts Fehler: Er hatte im privaten Kreis Zweifel über die Erfolgschancen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg geäußert. Ein paar unvorsichtige Worte reichten aus, um im NS-Regime sein Leben zu lassen. Inzwischen weiß man, dass Kreiten Kontakte zu antifaschistischen Gruppierungen hatte und der Gestapo wohl deshalb aufgefallen war. "Diese Kreise haben sein Denken beeinflusst", sagt Gilbert von Studnitz. "Er wollte nichts mit der Politik zu tun haben. Aber in jenen Tagen war das fast unmöglich. Also tat er seine Meinung kund - und die falsche Person hat es mitbekommen. Was dann geschah, wissen wir."

Karlrobert Kreiten, einstiger Schüler des berühmten Pianisten Claudio Arrau, hatte einflussreiche Freunde - doch selbst die Fürsprache des ebenso berühmten Dirigenten Wilhelm Furtwängler konnte seine Verhaftung und Hinrichtung nicht abwenden.

Heike Lindner erzählt vom Gefühl der Musiker, das Stück erstmals zu Gehör zu bringenBild: Privat

"Später erzählte ein Mitglied unseres Orchesters, er habe Kontakt zu Emmy Kreiten, Karlroberts Mutter, gehabt", sagt Heike Lindner. "Sie hatte den Musikern eine Rechnung des Gefängnisses Plötzensee gezeigt: Sie musste tatsächlich noch die Gefängnisgebühren bezahlen, sogar auch den Strick, mit dem Karlrobert hingerichtet wurde. Das war in Reichsmark berechnet, alles ganz gründlich aufgeführt. Es wird einem schummerig, wenn man das hört."

Da Familienmitglieder eines hingerichteten "Verräters" nicht vor dem NS-Terror sicher sein konnten, wanderten Theo und Emmy Kreiten mit ihrer Tochter Rosemarie ins Elsass aus. Nach Kriegsende kehrten sie nach Deutschland zurück. 1947 erschien das Buch "Wen die Götter lieben - Erinnerungen an Karlrobert Kreiten". Autor war Theo Kreiten, dessen Gesundheit nach dem Tod seines Sohnes stark nachließ. Er erblindete und starb 1960 in Düsseldorf. Sechs Jahre zuvor, 1954, war seine Tochter Rosemarie, die inzwischen den Familiennamen von Studnitz trug, mit ihrem dreijährigen Sohn Gilbert in die USA ausgewandert. 

Lebensfreude - und Lebenswille

Der Kreis schließt sich. Vor dem Konzert in Düsseldorf überreichte Gilbert von Studnitz die Noten seines Großvaters der Stadtregierung. Das OdL wird das Werk aufnehmen lassen und eine CD herausgeben. Falls sich ein Verlag dafür interessiert, können auch andere Pianisten und Orchester daran teilhaben. Es würde sich lohnen, denn Theo Kreitens "Fantasie für Klavier und Orchester" ist prall gefüllt mit dem Lebensgefühl der 1920er Jahre. Das Werk entstand in der Zeit zwischen den Weltkriegen, als kaum jemand die kommende Katastrophe erahnte.

Adrien Brody im Film "Der Pianist" Bild: picture-alliance/United Archives/Impress

Unschuld und Lebenslust durchdringen auch ein weiteres, am 28. September in der Düsseldorfer Tonhalle aufgeführtes Werk: das "Concertino für Klavier und Orchester" von Wladyslaw Szpilman; hier war der Solist Valère Burnon. Wer den Film "Der Pianist" gesehen hat, wird sich vielleicht an den Namen erinnern. Der Protagonist Szpilman, ein jüdischer Pianist und Komponist, der den Holocaust nur knapp überlebte, schrieb sein Concertino im Warschauer Ghetto - unter weitaus schlimmeren Bedingungen. Das Unbegreifliche daran: Auch dieses Werk versprüht Lebensfreude. Vielleicht ist der Lebenswille der stärkste aller menschlichen Impulse.

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