Urmilas Kampf
10. Juli 2017Im Grunde, so berichtet sie, habe sie zu den Glücklichen gehört. Sie sei nur beschimpft und geschlagen worden, nicht mehr. Andere hätten viel Schlimmeres erlebt. Urmila Chaudhary sagt das ganz ruhig. Es ist eine Feststellung. Sie spricht leise, aber mit fester Stimme, wenn sie über ihr Leben erzählt. Ein Leben, das jahrelang fast ausschließlich aus Qual und Einsamkeit bestand.
Urmila ist heute 27 Jahre alt. Fast zwölf davon verbrachte sie in Gefangenschaft, als Leibeigene und Dienstmagd reicher Hausherren in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu. Sie war eine sogenannte Kamalari, eins von zigtausenden Mädchen aus dem Stamm der Tharu, die von ihren Eltern aus wirtschaftlicher Not heraus verkauft werden. Knapp sieben Prozent der Bevölkerung in dem Himalaystaat sind Tharu. Sie sind arm, leben von der Landwirtschaft, doch das allein reicht oft nicht aus. So entwickelte sich über mehrere Jahrhunderte die Tradition, Töchter gegen Geld in die Stadt zu schicken. Den Eltern brachte das ein zusätzliches Einkommen - und einen Esser weniger. Den Mädchen werden brutal ihrer Kindheit beraubt. Kamalari bedeutet zwar übersetzt "hart arbeitende Frau", tatsächlich aber geht es dabei um Kinder.
Kampf gegen festgefahrene Strukturen
Dass dieses Thema über die Landesgrenzen Nepals hinaus einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde – und dass das Kamalari-System seit 2013 sogar gesetzlich verboten ist und unter Strafe steht, hängt zu einem großen Teil mit Urmila Chaudhary zusammen. Seit zehn Jahren ist sie selbst wieder frei. Seitdem prangert sei an, klärt sie auf und geht auf die Straße. Unermüdlich setzt sie sich dafür ein, dass andere Mädchen nicht dasselbe durchleiden müssen wie sie. Sie wird Aktivistin, gründet eine eigene Organisation, befreit tausende anderer Haushaltssklavinnen und ermöglicht ihnen mit Hilfe von Spendengeldern einen zweiten Start ins Leben. Und lässt sich durch gesellschaftliche und politische Widerstände nicht aufhalten.
Allein in der Stadt
Heute ist sie eine Vorkämpferin. Damals war sie ein kleines Kind.
"An den Tag, als ich von meiner Familie verkauft wurde, kann ich mich kaum erinnern", erzählt sie. "Ich war zu jung. Ich weiß noch, dass mein Vater sehr krank war. Meine Eltern hatten kein Geld, um ihn im Krankenhaus behandeln zu lassen." Zu diesem Zeitpunkt kommt ein fremder Mann durch das Dorf. Er möchte Urmila als Dienstmagd für den Haushalt seiner Tochter kaufen. Der Mann bietet ein Jahresgehalt von 4000 Rupien, das sind nach heutigem Stand umgerechnet 34 Euro.
Genug Geld, um Urmilas Schicksal zu besiegeln. Genau wie vorher das ihrer beiden Schwestern. Auch sie arbeiten bereits irgendwo in der Hauptstadt als Kamalari. Urmila geht ebenfalls nach Kathmandu, zu einer Familie mit zwei Kindern. Sie arbeitet 14 bis 16 Stunden pro Tag, muss den Haushalt führen, putzen und kochen. Anfangs ist sie zu klein, um überhaupt in die Töpfe schauen zu können, deshalb klettert sie auf den Herd und bereitet so das Essen zu. Außerdem muss sie die Kleinen betreuen."Das eine Kind war in meinem Alter, das andere etwas älter als ich. Ich musste sie jeden Tag zur Schule bringen und ihre Taschen tragen. Das war körperlich sehr hart."
Noch härter allerdings ist es, die Kinder am Tor abzugeben und selbst nicht hineingehen zu dürfen. Urmila wünscht sich schon damals nichts sehnlicher, als zur Schule gehen zu dürfen. Ein Traum, unerreichbar. Die Unterschiede zwischen sich und den Kindern der Familie spürt sie jeden Tag. "Wenn ich sah, wie die Mutter ihnen Essen gab und sie manchmal liebevoll mit dem Löffel fütterte, dann fühlte ich mich so anders als sie. Diese beiden hatten alles, sie konnten spielen, durften Kinder sein. Warum ich nicht?"
Unbändiger Wissensdurst
Die Einsamkeit ist schlimm, besonders nachts. Dann weint Urmila sich in den Schlaf. Sie hält sich an dem Gedanken fest, dass sie eines Tages zu ihrer Familie zurückkehren kann. "Ich habe nie die Hoffnung verloren. Ich konnte weder lesen noch schreiben. Aber ich war immer davon überzeugt, dass ich etwas aus meinem Leben machen würde. Nicht nur für mich selbst, sondern auch für andere Kamalari-Mädchen." Es ist wie eine Kampfansage. Urmila hat noch viel vor. Und sie ist erfinderisch. Sie fragt die Kinder ihrer Hausherren, was genau sie in der Schule machen. Und bittet sie, es ihr zu erklären. So lernt sie das ABC.
Acht Jahre bleibt sie bei der ersten Familie, dann wird sie weitergereicht. In den Haushalt einer alleinstehenden Frau. Dort ist es noch schlimmer. Urmila ist komplett isoliert, sie bekommt verdorbenes Essen, die Herrin schreit sie oft an. Urmila darf ihr nicht einmal in die Augen schauen. Die Frau ist eine hochrangige Politikerin.
Heimkehr nach über einem Jahrzehnt
Zur ihrer eigenen Familie darf Urmila keinen Kontakt haben, jahrelang. Und das versprochene Geld, die 4000 Rupien Jahreslohn, wird den Eltern nur in den ersten beiden Jahren gezahlt. "Sie konnten nichts dagegen tun. Sie hätten sich niemals getraut, es einzufordern. Tharu sind sehr gehorsame und pflichtbewusste Menschen." Das sagt sie fast entschuldigend.
Dass Urmila nach fast zwölf Jahren wieder in ihr Dorf zurückkehren kann, ist einem Zufall zu verdanken. Sie sieht ihren Bruder im Fernsehen, er nimmt teil an einer Demonstration gegen Zwangsarbeit. Urmila bekniet die Politikerin, ihr ein Treffen mit ihm zu erlauben. Anfangs weigert diese sich, ihr Einverständnis zu geben. Aber Urmila ist hartnäckig. Sie lässt nicht locker, hört sogar auf zu essen. Schließlich willigt ihre Herrin ein. Sie besteht aber darauf, Urmila zu begleiten.
Ein paar Wochen später erteilt die Herrin ihr dann sogar die Erlaubnis, über einen Feiertag gemeinsam mit ihrem Bruder nach Hause zu fahren – unter der Bedingung, dass sie wiederkommt. "Aber dann bin ich einfach nicht zurückgekehrt. Ich konnte das nicht, es war ja wie ein Gefängnis." Trotz allem, was sie durchmachen musste: Bis heute hat Urmila ein schlechtes Gewissen, weil sie einfach gegangen ist.
Tabuthema und Schuldfrage
Der Moment, als sie ihre Mutter zum ersten Mal wiedersieht, ist schwer. Sie hätten eigentlich nur geweint. Über ihre Erlebnisse während der Zeit als Kamalari hat sie bis heute nicht mit ihren Eltern gesprochen, hat es auch nicht vor. "Ich möchte ihnen das nicht antun. Es würde sie verletzen, zu hören wie ich behandelt wurde. Ein wenig wissen sie aber schon, weil die Medien über mich berichten und andere Leute sie auf mich ansprechen. Aber ich selbst habe ihnen nie etwas gesagt."
Urmila nimmt ihre Eltern in Schutz. "Als sie meine Schwestern und mich verkauft haben, hatten sie ja keine Vorstellung davon, was uns erwarten würde. Für sie war es normal, ihre Kinder wegzugeben. Das war bei uns Tharu ja Tradition seit Generationen." Ob es wirklich so einfach ist? Auf die Frage, ob sie ihren Eltern diesen Schritt wirklich nie übel genommen hat, gibt sie zu: "Doch, manchmal bin ich schon sehr wütend, weil ich einfach meine Kindheit verloren habe. Ich konnte nicht mit der Liebe meiner Eltern aufwachsen." Solche Gedanken versuche sie aber wegzuschieben. Und sich zu sagen, dass ihre Eltern einfach keine andere Wahl hatten.
Aufgeben? - keine Option
Urmila hat ihre Freiheit zurück. Aber sie will mehr, sie will ein Leben. Das, von dem sie immer geträumt hat. Dabei hat sie bei realistischer Betrachtung kaum eine Chance. Sie ist 17, hat nie eine Schule besucht - und möchte doch Anwältin werden. Sie geht einfach unbeirrt ihren Weg, setzt sich mit deutlich jüngeren Kindern in die Klasse, erträgt erstaunte Blicke und neugierige Fragen. Daneben baut sie unter dem Dach der Nepal Youth Foundation sogar noch eine eigene Organisation auf, das spendenfinanzierte "Freed Kamalari Development Forum (FKDF)". Und holt andere aus der Versklavung. "Es ist unglaublich, was sie alles erreicht hat", sagt Irene Jung von der Organisation Terre de Femmes. Sie kennt Urmila schon seit Jahren. Gemeinsam mit anderen Organisationen hat das FKDF innerhalb der letzen Jahre 13.000 Mädchen befreit.
"Sie sind flächendeckend durch die Dörfer gezogen und haben gefragt: In welcher Familie gibt es wie viele Töchter und wo sind sie? Sie waren sehr beharrlich, haben einen regelrechten Zensus gemacht und herausgefunden, wo überall Mädchen fehlen." Gezielt kontrollieren sie beispielsweise Überlandbusse, suchen nach unbegleiteten jungen Mädchen auf dem Weg in die Städte.
Außerdem führen sie auf den Dörfern Theaterstücke auf, stellen dort ihre eigenen Erlebnisse szenisch dar. So wollen sie Eltern aufzeigen, was ihre Töchter tatsächlich in den Haushalten erwartet. Immer wieder käme es vor, dass Mütter oder Väter nach der Vorstellung auf sie zukommen und sie direkt ansprechen, berichtet Urmila. "Sie sagen: Meine Tochter ist auch eine Kamalari. Ich hatte ja keine Ahnung, was das bedeutet. Bitte helfen Sie mir, sie zu befreien." Urmila spiele bei diesen Aufführungen übrigens gern die Rolle der Herrin, berichtet Irene Jung. Vielleicht ihre Art, die Erlebnisse ein Stück weit zu verarbeiten.
Langfristige Ziele
Wie viele Kamalari es heute noch gibt, weiß niemand genau. "Offiziellen Schätzungen zufolge sind es nur noch etwa 150 Mädchen", sagt Irene Jung. Beobachter gehen aber davon aus, dass es tatsächlich noch deutlich mehr sind. Und auch wenn das Kamalari-System seit ein paar Jahren offiziell abgeschafft ist, haben sich die Gesellschaftsstrukturen noch nicht grundlegend verändert. Am Ziel ist Urmila noch lange nicht.
Diejenigen Mädchen, die sie und die anderen herausgeholt haben, bekommen nach ihrer Befreiung weiter Unterstützung, können an Schul- und Ausbildungsprogrammen teilnehmen. "Urmila will an den Grundbedingungen etwas ändern und den Mädchen wirtschaftliche Perspektiven bieten", erklärt Irene Jung. "Deshalb haben sie ein großes Projekt in Angriff genommen. Dabei geht es um den Aufbau von 40 Kooperativen und die Vergabe von Mikrokrediten für 6000 ehemalige Kamalari."
Bei allem öffentlichen Engagement - Urmila sei ein sehr leiser Mensch, bedacht und reflektiert, so Jung. "Diese Kombination gepaart mit so viel Durchsetzungsvermögen und Power, das ist unglaublich. Sie hat ein riesiges Einfühlungsvermögen und so viel Empathie. Das merkt man jedes Mal, wenn man sieht, wie sie mit den jungen Mädchen umgeht, die sie befreit hat."
Große Ambitionen
Urmila hat viel scheinbar Unmögliches möglich gemacht. Für andere, aber auch für sich selbst. Sie hat Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Sie spricht Englisch, hat einen Schulabschluss nachgeholt. Gerade hat sie an der Aufnahmeprüfung für die Uni teilgenommen. Wenn sie besteht, kann sie im Herbst tatsächlich anfangen, Jura zu studieren.
Vor wenigen Tagen wurde Urmila Chaudhary für ihr Engagement im baden-württembergischen Esslingen mit dem Internationalen Menschenrechtspreis der Stadt ausgezeichnet. Die Zukunft, die sie eigentlich nie hatte, liegt jetzt vor ihr. Sie ist stolz auf ihre Bildung, das merkt man. Aber ist sie auch glücklich? Urmila zögert einen Moment. Nein, sagt sie dann. Als glücklichen Menschen würde sie sich nicht bezeichnen. "Aber immerhin fühle ich mich heute überhaupt wieder als Mensch."