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Politik

Ursachenforschung nach Stuttgarter Krawallen

22. Juni 2020

Die nächtlichen Ausschreitungen in Stuttgart haben bundesweit Empörung ausgelöst. Die Politik verurteilt die Krawalle einhellig. Nun beginnt die Suche nach Erklärungen und die Diskussion über Konsequenzen.

Deutschland Stuttgart Unruhen Vandalismus
Bild: Getty Images/T. Kienzle

Die Bilanz einer Nacht exzessiver Ausschreitungen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt hat bundesweit viele Menschen erschüttert. Die Bundesregierung verurteilt die Krawalle und Übergriffe auf Polizisten am Wochenende in Stuttgart scharf. Solche Angriffe seien durch nichts zu rechtfertigen. Sie seien gegen die Stadt und ihre Bürger gerichtet gewesen. Wer so etwas tue, stelle sich gegen seine Stadt und gegen die Rechte, die alle schützten, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die Bundesregierung wisse sehr wohl, was die Polizisten tagtäglich leisteten. Den Verletzten wünschte Seibert baldige Genesung.

In der Stuttgarter Innenstadt entwickelte sich eine normale Drogenkontrolle zu einer Krawallnacht, bei der es zu Auseinandersetzungen zwischen zeitweise knapp 500 Personen und der Polizei kam.

Dabei demolierten die Gruppen rund 40 Geschäfte, beschädigten Streifenwagen und zogen plündernd durch die Straßen. 19 Polizisten wurden verletzt. 24 Personen wurden vorläufig festgenommen, darunter zwei Frauen. Zwölf der Festgenommenen haben einen deutschen Pass. Sieben Verdächtige sollen dem Haftrichter vorgeführt werden. Der Stuttgarter Polizeivizepräsident Thomas Berger bezifferte den Sachschaden auf einen sechs- bis siebenstelligen Betrag.

Seehofer fordert harte Strafen

Bundesinnenminister Horst Seehofer verlangt harte Strafen für die Randalierer. "Da geht es auch um die Glaubwürdigkeit unseres Rechtsstaates", sagte der CSU-Politiker bei einem Besuch in Stuttgart. Die Entwicklung vom Wochenende und auch in den Monaten zuvor sei ein "Alarmsignal für den Rechtsstaat", sagte der CSU-Politiker. Es gehe nicht nur um Gewalt gegen die Polizei, sondern auch um die Verunglimpfungen der Beamten mit Worten. "Aus Worten folgen immer auch dann Taten."

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann bezeichnete die Ereignisse als Gewaltorgie. "In meinen Augen war das Landfriedensbruch, was da geschehen ist, und das gehört zu den schweren Straftaten", sagte der Regierungschef bei einem Besuch der Stuttgarter Königstraße. Beim Landfriedensbruch geht es um Straftaten, die aus großen Menschenmengen heraus begangen werden. Landfriedensbruch wird laut Strafgesetzbuch mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übte scharfe Kritik an den gewaltsamen Ausschreitungen und stellte sich demonstrativ hinter Polizeibeamte. "Gewalt, Vandalismus, schiere Brutalität - wie am Wochenende in Stuttgart gesehen - müssen mit aller Härte des Rechtsstaats verfolgt und bestraft werden", sagte Steinmeier in Berlin. "Wer Polizistinnen und Polizisten angreift, wer sie verächtlich macht oder den Eindruck erweckt, sie gehörten 'entsorgt', dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen."

Auch Linksfraktionschef Dietmar Bartsch verurteilte die Ausschreitungen und Angriffe auf die Polizei. Was in Stuttgart passiert sei, dürfe sich nirgends in Deutschland wiederholen, sagte Bartsch der Deutschen Presse-Agentur. "Gewalt gegen Polizisten ist inakzeptabel."

Keine Hinweise auf politische Motivation

Nach Ansicht der Polizeiführung waren die Ausschreitungen sehr wahrscheinlich nicht politisch motiviert. "Wir haben noch keine verdichteten Hinweise darauf, dass hier tatsächlich eine politische Motivation oder entsprechend auch eine religiöse Motivation hinter diesen Taten steckt", sagte die baden-württembergische Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz in Stuttgart.

In einem Statement auf Facebook sprach der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz von einem "traurigen Tag für Stuttgart". Eine solche Dimension von Gewalt habe er in 46 Polizeidienstjahren noch nicht erlebt. "Wir werden unser Bestes geben, damit die Straftäter schnellstmöglich ermittelt werden."

Nach den Krawallen darf sich die Stadt Stuttgart nach Ansicht der Polizeigewerkschaft nicht mehr gegen ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen sperren. "Jugendliche haben auch außerhalb der derzeit gesperrten Clubs ausreichend Gelegenheit, sich Alkohol zu kaufen", sagte der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer. Auch eine Sperrstunde zum Beispiel zwischen 3.00 und 7.00 Uhr morgens müsse diskutiert werden, forderte er. Vor allem jüngere Menschen hätten Hemmungen verloren, weil die Polizei in den vergangenen Wochen unter anderem in der politischen Debatte zum Feindbild stilisiert worden sei.

Der Kriminologe und niedersächsische Ex-Justizminister Christian Pfeiffer sieht die Hauptursache der Krawalle in den Coronavirus-Beschränkungen. "Da ist viel aufgestauter Ärger vorhanden", sagte der frühere Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen,"wir haben viele Verlierer durch Corona". Hinzu komme, "dass die Leute mehrere Wochen wie eingesperrt waren, wenn man es mit dem uns sonst vertrauten Leben vergleicht. Menschen, die eingesperrt waren, sind aggressiver". Der Kriminologe warnte davor, die Gewalttäter in falsche Kategorien einzuordnen: "Das Wort Partyszene ist für die Beschreibung der Randalierer ein sehr unglücklicher Ausdruck", betonte Pfeiffer.

Club Kollektiv kritisiert Wortwahl

Derweil distanzierte sich das Club Kollektiv Stuttgart, ein Interessenverband von Clubs und Veranstaltern, klar von den Krawallen in der Landeshauptstadt. Auf Facebook schreibt er: "Diese sinn- und hirnlosen Gewaltexzesse sind das letzte was wir wollen. Das ist nicht unser Stuttgart!" Dennoch kritisieren die Betreiber, dass die Polizei die Verantwortlichen für die Ausschreitungen als "Party- und Eventszene" bezeichnete. Dies sei nicht angebracht und spiegele den Sachverhalt nicht wider. Das Kollektiv weist darauf hin, dass es sich bei den Randalierern nicht um eine homogene Gruppe handelte und die Eskalation nicht in einem der Clubs begann. Daher seien verallgemeinernde Vorwürfe unpassend. Insbesondere, da die Club-Szene aufgrund der Corona-Pandemie derzeit in großer Not stecke.

kle/rb (dpa, afp)