Flucht, Exil, Gewalt und Feminismus: Um diese Themen kreist das Werk der 77-jährigen Autorin, die auch als Regisseurin eigener Hörspiele hervortrat. Nun erhält sie die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland.
Frankfurt am Main, 2012Bild: Wolfgang Minich/picture alliance
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Die Schriftstellerin Ursula Krechel erhält den Georg-Büchner-Preis 2025. Das gab die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt bekannt. Die mit 50.000 Euro verbundene Auszeichnung soll am 1. November in der südhessischen Stadt überreicht werden; der Preis gilt als eine der wichtigsten Würdigungen für Literatur im deutschsprachigen Raum.
Für ihren Roman "Landgericht" erhielt Ursula Krechel den Deutschen Buchpreis 2012Bild: Boris Roessler/dpa/picture alliance
Krechel setze in ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays "den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur" entgegen, begründete die Akademie die Auszeichnung. Das Werk der 77-Jährigen rege dazu an, "die Spuren der Vergangenheit im Alltag der Gegenwart aufzufinden und das Hier und Jetzt der deutschen Gesellschaft nicht hinzunehmen, wie es ist". Zudem ziehe sich das Thema der Selbstbehauptung, Wiederentdeckung und Fortentwicklung weiblicher Autorschaft als roter Faden durch ihr gesamtes Schaffen.
Ehrenamtliche Arbeit mit Untersuchungshäftlingen
Krechel wurde unter anderem mit ihren Romanen "Shanghai fern von wo" und "Landgericht" bekannt. Die 1947 geborene Autorin wuchs im rheinland-pfälzischen Trier auf. Nach einem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte mit anschließender Promotion arbeitete sie als Dramaturgin und Publizistin. Ehrenamtlich engagierte sie sich in der Theaterarbeit mit jugendlichen Untersuchungshäftlingen.
Krechel lebte als freie Schriftstellerin in Köln, Darmstadt, Frankfurt am Main und seit Ende der 1990er Jahre in BerlinBild: Boris Roessler/dpa/picture alliance
Krechel gab ihr Debüt 1974 mit dem Theaterstück "Erika". 1977 folgte mit "Nach Mainz!" der erste Gedichtband und 1981 ihr erster Roman "Zweite Natur". Ab 1985 trat sie als Regisseurin eigener Hörspiele hervor. Zu ihren jüngeren Veröffentlichungen zählen "Beileibe und zumute. Gedichte" (2021), der Essayband "Gehen, Träumen, Sehen. Unter Bäumen" (2022) sowie in diesem Jahr der Band "Vom Herzasthma des Exils" und der Roman "Sehr geehrte Frau Ministerin" über vier Frauen in Antike und Gegenwart, deren Leben von erlittener und ausgeübter Gewalt geprägt ist.
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Mitgründerin des PEN Berlin
Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit lehrte Krechel als Gastprofessorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Universität der Künste in Berlin. Die frühere Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrums Deutschland hatte den Schriftstellerverband 2022 im Zuge einer Kontroverse um den damaligen Präsidenten Deniz Yücel verlassen. Sie war daraufhin Mitgründerin des PEN Berlin. Überdies gehört sie der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz an.
Die Autorin war unter anderem Gastprofessorin und Writer in residence in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und in IsraelBild: Markus C. Hurek/picture alliance
Krechel ist mit dem Kulturmanager und Gründungsleiter des Literaturhauses Berlin, Herbert Wiesner, verheiratet und lebt in der deutschen Hauptstadt. Sie erhielt bereits mehrere bedeutende Auszeichnungen: 2012 den Deutschen Buchpreis, 2019 den Jean-Paul-Preis für ihr Lebenswerk sowie 2020 das Bundesverdienstkreuz.
Die Akademie für Sprache und Dichtung verleiht seit 1951 den Büchner-Preis an herausragende Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihre Werke in deutscher Sprache verfassen. Namensgeber ist der in Darmstadt aufgewachsene Dramatiker und Revolutionär Georg Büchner (1813-1837). Im vergangenen Jahr wurde Oswald Egger geehrt.
Immer wieder tritt Ursula Krechel als Vermittlerin der eigenen Literatur in Erscheinung - hier 2012 auf dem Blauen Sofa der Frankfurter BuchmesseBild: Susannah V. Vergau/dpa/picture alliance
Weitere Träger der Auszeichnung waren unter anderen Gottfried Benn, Max Frisch, Hans Magnus Enzenzberger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Thomas Bernhard, Christa Wolf, Erich Fried, Wilhelm Genazino, Felicitas Hoppe und Terézia Mora. Der Preis wird vom Bund, dem Land Hessen und der Stadt Darmstadt finanziert.
jj/se (dpa, afp, epd, kna)
Große Büchner-Preisträger
2022 wird der bedeutendste deutsche Literaturpreis zum 72. Mal vergeben. Alle Ausgezeichneten gehören zum deutschsprachigen Literaturkanon. Wir zeigen eine Auswahl der Preisträgerinnen und Preisträger.
Bild: picture-alliance/dpa
Emine Sevgi Özdamar
Die Deutschtürkin hat schon zahlreiche wichtige Literaturpreise abgeräumt, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis. Mit 75 Jahren hat Emine Sevgi Özdamar jetzt auch den renommierten Georg-Büchner-Preis entgegengenommen. Die Jury lobte den "intellektuellen wie poetischen Dialog zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen", an dem die Autorin ihre Leserschaft teilhaben lässt.
Bild: Fredrik von Erichsen dpa/picture alliance
Clemens J. Setz (2021)
Der österreichische Schriftsteller und Übersetzer studierte in seiner Heimat Graz Mathematik und Germanistik. 2007 erschien sein Debütroman "Söhne und Planeten". Setz wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. Die Akademie für Sprache und Dichtung würdigte mit dem Büchner-Preis seine "bisweilen verstörende Drastik".
Bild: picture-alliance/APA/G. Eggenberger
Elke Erb (2020)
Elke Erbs schriftstellerische Anfänge lagen in der DDR. "Und setzen sich nach dem Ende der DDR unbeirrt bis in die Gegenwart fort", urteilt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Sie würdigt 2020 Elke Erbs "poetischen Sachverstand", der mehrere Generationen von Dichterinnen und Dichtern in Ost und West beeinflusst habe.
Bild: picture-alliance/dpa/dpa/G. Zoerner
Lukas Bärfuss (2019)
Seine Stücke - etwa "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" - prägen die deutsche und schweizerische Theaterwelt. Knapp 20 seiner Werke wurden bisher uraufgeführt, einige davon in mehrere Sprachen übersetzt. Als Schriftsteller überzeugte er unter anderem mit seinem Roman "Hundert Tage" (2008) über den Völkermord in Ruanda sowie mit "Koala" (2014) über den Suizid seines Bruders.
Bild: picture-alliance/dpa/telam/P. Ribas
Gottfried Benn (1951)
Der erste Büchner-Preisträger: Gottfried Benn. Die Gräuel des Ersten Weltkriegs erlebt er als Militärarzt. Er verarbeitet sie in expressionistischen Gedichtbänden, die geprägt sind von einem menschenverachtenden Ton. Anders als viele Kollegen verleugnet er seine anfängliche Sympathie für den Nationalsozialismus später nicht. Im Nachkriegsdeutschland gilt er als stilbildender Dichter.
Bild: picture-alliance/dpa/akg-images
Erich Kästner (1957)
"Emil und die Detektive", "Das fliegende Klassenzimmer" und "Das doppelte Lottchen" sind Kinderbuchklassiker, die fast jeder Mensch in Deutschland kennt. Sie sind von einer feinen Beobachtungsgabe geprägt, gepaart mit lakonischem Humor. Kästner stellt die Welt so dar, wie sie ist; seine Helden kommen selten aus idyllischen Familienverhältnissen. Doch ein Happy End gibt es immer. Zum Glück!
Bild: picture alliance/Goebel/dpa
Max Frisch (1958)
Im Jahr seiner Büchner-Preis-Auszeichnung lernt der Schweizer Schriftsteller Max Frisch ("Biedermann und die Brandstifter", "Stiller"), die Dichterin Ingeborg Bachmann kennen. Der Beginn einer Liaison, die er in "Mein Name sei Gantenbein" verarbeitet und nach dem Ende der Beziehung veröffentlicht. Darin: Die Figur einer eitlen, sich selbst überschätzenden Frau - in der Bachmann sich wiedererkennt.
Bild: AP
Ingeborg Bachmann (1964)
Die Kränkung raubt ihr die Sprache. Die Dichterin und Intellektuelle, zuvor gefeiert für ihre Gedichtbände und Hörspiele wie "Der gute Gott von Manhattan" (1958), schreibt 250 Briefe an den Verflossenen (die 2017 veröffentlicht wurden), muss mehrmals ins Krankenhaus und wird tablettensüchtig. 1964 würdigt die Jury das Werk der Österreicherin als "scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht."
Bild: picture-alliance/dpa
Günter Grass (1965)
"Die Blechtrommel", "Katz und Maus" und "Hundejahre" bilden Grass' "Danziger Trilogie", veröffentlicht zwischen 1959 und 1963. In diesen wenigen Jahren katapultiert Grass sich in die Riege der größten deutschen Nachkriegsliteraten. Er erhält 1999 den Literaturnobelpreis. Der streitbare Schriftsteller gilt in Deutschland bis zu seinem Tod 2015 als moralische Instanz - trotz seiner NS-Vergangenheit.
Bild: picture alliance/dpa
Heinrich Böll (1967)
Sein Freund Heinrich Böll, Linksintellektueller und Pazifist, setzt sich in seinen Schriften kritisch mit der jungen Bundesrepublik auseinander. "Und sagte kein einziges Wort" (1953) und "Ansichten eines Clowns" (1963) gehören bis zur Preisverleihung 1967 zu seinen wohl bekanntesten Werken; der Roman "Gruppenbild mit Dame" beschert ihm 1972 den Literaturnobelpreis.
Bild: Imago/Sven Simon
Friedrich Dürrenmatt (1986)
Er ist ein Querdenker und Rebell. Dürrenmatts umfassendes Werk stelle sich "den großen Fragen der Gegenwart mit weitem historischen Horizont, mit exakter Phantasie, mit Weisheit und Witz", befindet die Büchner-Preis-Jury 1986. Sein Drama "Die Physiker" begleitet Schüler seit Jahrzehnten und war lange Jahre eines der meist gespielten Theaterstücke im deutschsprachigen Raum.
Bild: Getty Images/Hulton Archive
Elfriede Jelinek (1998)
Die österreichische Autorin etabliert sich mit ihren messerscharfen Analysen und ihrer unbändigen Moralität als eine der führenden Autorinnen der Gegenwart. 1989 erscheint Jelineks bis heute meistverkaufter Roman "Lust", der von einigen Kritikern als "weiblicher Porno" zerrissen wird. Sie bleibt weiter unbequem - und brillant. 2004 erhält sie den Literaturnobelpreis.
Bild: picture-alliance/dpa/K. Techt
Sibylle Lewitscharoff (2013)
In ihrer Jugend liest sie Marx und Trotzki. Zum Schreiben kommt Lewitscharoff allerdings erst später. Nach dem Studium arbeitet sie zunächst 20 Jahre lang als Buchhalterin. 1998 schafft sie mit ihrer Erzählung "Pong" den Durchbruch. Die Geschichte eines Verrückten, der die Welt verändern will, wird von Kritikern als Meisterwerk gelobt. Auch ihre Folgewerke werden vielfach ausgezeichnet.
Bild: picture-alliance/Robert B. Fishman
Terézia Mora (2018)
Nahe der beschaulichen Stadt Sopron wächst Mora an der österreichisch-ungarischen Grenze in einfachen Verhältnissen auf. Zunächst macht sie mit herausragenden Übersetzungen ungarischer Literatur auf sich aufmerksam. Später gelingt ihr der Durchbruch als Schriftstellerin mit "Seltsame Materie". Am 27. Oktober 2018 wurde ihr in Darmstadt der Georg-Büchner-Preis verliehen.
Bild: Luchterhand Verlag
Georg Büchner
Der Namensgeber Georg Büchner stirbt mit 23 Jahren an Typhus. Trotzdem zählt er bis heute zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern. Als er 1834 in seinem "Hessischen Landboten" die sozialen Missstände in Deutschland anprangert, muss er fliehen. Im Schweizer Exil widmet er sich neben dem Schreiben seiner anderen großen Leidenschaft: der Wissenschaft. Sein kluges, feines Gesamtwerk bleibt.