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Politik

Fukuyama fürchtet mehr Instabilität und Chaos

Simon Young | Seda Serdar
8. November 2019

"Das Ende der Geschichte": So nannte Francis Fukuyama sein berühmt gewordenes Buch, das sich mit den Folgen des Wendejahres 1989 auseinandersetzte. 30 Jahre später wirft er im DW-Interview einen Blick auf die Gegenwart.

Francis Fukuyama, ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler
Bild: DW

30 Jahre ist der Fall der Berliner Mauer nun her. Doch wie steht es um die heutige Staatenwelt? Francis Fukuyama schrieb kurz nach dem Wendejahr sein Buch "Das Ende der Geschichte", eines der meistdiskutierten Werke der letzten Jahrzehnte. Heute betrachtet der Historiker mit Sorge die jüngste Tendenz der Vereinigten Staaten, sich aus internationalen Allianzen zu verabschieden. Ihr Rückzug, fürchtet er, werde ein Vakuum hinterlassen, das von undemokratischen Ländern gefüllt werden könnte. Allerdings ist er überzeugt: Der Geist, der die Berliner Mauer einst zum Einsturz brachte, wirkt auch weiterhin. Das begründet seine Hoffnung auf den weiteren Bestand liberaler Demokratien. 

DW: Francis Fukuyama, die Ereignisse rund um den Sommer 1989 fassten Sie in einem berühmt gewordenen Artikel und einem sich daran anschließenden Buch mit dem Titel "Das Ende der Geschichte" ("The End of History") zusammen. Leitete der Fall der Berliner Mauer das Ende der Geschichte ein?

Francis Fukuyama: Der Satz bezieht sich auf den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Es geht dabei nicht um äußere Fakten, also die Ereignisse. Es geht um die grundsätzliche Richtung des menschlichen Fortschritts. Der Begriff "Geschichte" lässt sich hier im Sinn von "Modernisierung" oder "Entwicklung" verstehen. So erklärten die Marxisten einst, das Ende der Geschichte liefe auf die kommunistische Utopie hinaus. Ich war im Sommer 1989 der Ansicht, dass es danach nicht aussehe. Damals regierte Gorbatschow die Sowjetunion und es war ein gewisser Reformgeist zu verspüren. Dann begannen die mitteleuropäischen Regime – Ungarn und Polen zum Beispiel - sich in Richtung Demokratie zu bewegen. Die Frage war, ob diese Länder zu liberalen Demokratien würden. Die mitteleuropäischen haben das geschafft.

Letzter Staatspräsident der Sowjetunion: Michael Gorbatschow, hier um 1990Bild: picture-alliance/IMAGNO/Votava

Der Kalte Krieg war auch ein Kampf der Ideologien. Und in dem gab es auch einen Sieger. 

Der Kommunismus war diskreditiert. Niemand schien mehr an den Marxismus-Leninismus zu glauben. In diesem Sinne war es ein Triumph der liberalen Ideen.

30 Jahre ist es nun her, dass die Mauer fiel. Kann man mit Blick auf das Ereignis von einem Bruch in der Geschichte sprechen?

In 100 Jahren werden die Menschen von 1989 immer noch als einem bedeutenden Wendepunkt sprechen, durch den Europa wieder geeint und die Vorherrschaft des Kommunismus beendet wurde. Jetzt aber zeigen sich andere Systeme, die ebenfalls keine einwandfreien liberalen Demokratien sind. So sind in Ost- und Mitteleuropa viele der ehemals kommunistischen Länder in gewisser Weise rückfällig geworden. Ungarn und Polen werden von populistischen Regierungen regiert, die in Sachen Vielfalt und Machtkonzentration nicht sonderlich liberal sind. Damals endete eine autoritäre Regierung, doch jetzt scheinen wir am Anfang einer Zeit zu stehen, in der ein neuer Populismus um sich greift. Der ist für die Demokratie eine Herausforderung.

Der Kalte Krieg ordnete die Welt auf seine Weise. Wie müssen wir uns die derzeitige Weltordnung vorstellen?

Die Welt ist in gewisser Weise vielfältiger. Aber es gibt autoritäre Regime. Die Chinesen etwa haben ein ganz anderes Staatsmodell. Sie vermischen eine bestimmte Art von Staatskapitalismus mit einer hochautoritären, zentralisierten Diktatur. Das tun sie überaus erfolgreich. Das System ist stabil und hat erheblichen Reichtum hervorgebracht. Im Nahen Osten hingegen existiert ein islamisches Modell, das als Alternative viel weniger erfolgreich war. Und es gibt diese neuen illiberalen Demokratien, die von sich behaupten, Demokratien zu sein, die allerdings nicht jenes System von "checks and balances" umsetzen, das für eine echte Demokratie unabdingbar ist. Es ist also nicht mehr möglich, die Welt so klar in zwei Lager aufzuteilen, wie es zur Zeit des Kalten Krieges üblich war.

Freiheit versus Autoritarismus: Demonstranten in Hongkong, Juli 2019Bild: picture-alliance/AP Images/The Yomiuri Shimbun

Bringt diese Vielfalt Stabilität oder Chaos?

Ich befürchte, die Welt wird weniger stabil sein. Die Vereinigten Staaten waren die Macht, welche die liberale Weltordnung geschaffen hat, sowohl bei der Integration der Weltwirtschaft als auch im Hinblick auf ihre militärischen Bündnisse, zum Beispiel die NATO oder die Bündnisse mit Japan und Korea. Jetzt haben sich die USA aus den internationalen Kooperationssystemen zurückgezogen. Die aktuelle US-Regierung erklärt, die damit einhergehende Verantwortung nicht mehr tragen zu wollen. Dabei muss man davon ausgehen, dass dieses Vakuum von anderen, nicht demokratischen Mächten wie Russland und China gefüllt wird. So könnte es chaotischer werden.

Sie gehen davon aus, nun begänne der Aufstieg von Populismus und Nationalismus. Warum?

Es gibt zwei Erklärungen. Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge haben beide Phänomene wirtschaftliche Ursachen, da die Globalisierung Gewinner und Verlierer hervorgebracht hat. Der Populismus ist demnach der Aufstand der Verlierer. Sie greifen die Eliten an, weil diese die neue Welt angeblich geschaffen haben. Die andere Erklärung, die ich für die schlüssigere halte, hat kulturelle Ursachen. Dabei geht es um den Verlust des Gemeinschaftsgefühls wie auch der nationalen Identität, hervorgerufen durch massive Einwanderung und die Auslagerung von Arbeitsplätzen. Mir scheint, die Menschen empfinden diese Entwicklung als belastend. Denn sie wollen an Identitäten gebunden sein, die stärker sind als jene, die eine liberale Gesellschaft ihnen geben kann.

Was steht es um die Europäische Union? Sie ist eine trans- oder postnationale Institution. Doch zugleich klammern sich ihre Bürger an nationale Identitäten.

Die Menschen fühlen sich ihrem Herkunftsland unvermeidlich näher als einem Kontinent namens Europa. Der Grund: Es wurde einfach nicht genug in die Schaffung einer europäischen Identität investiert. Das Projekt war in gewisser Hinsicht erfolgreich. Doch es ist noch sehr weit davon entfernt, den Menschen jenes Solidaritätsgefühl zu vermitteln, das den Nationalismus des 20. Jahrhunderts ersetzen könnte, den wir jetzt wieder aufleben sehen.

Vor 30 Jahren sprachen Sie über den Triumph des Westens. Jetzt beobachtet man in den westlichen Staaten den Aufstieg von China und Russland. Warum setzt sich die Demokratie nicht mehr durch? Ist sie von Natur aus zu schwach?

Die Demokratie hat viele verborgene Stärken. Die mögen auf kurze Sicht nicht offensichtlich sein, haben langfristig aber doch erhebliche Wirkkraft. Denn die Fähigkeit, die politische Führung auszutauschen oder Personen zur Rechenschaft zu ziehen, ist von enormer Bedeutung. Diese Art der Kontrolle und des Gleichgewichts sind wichtige Garantien dafür, dass Macht nicht missbraucht wird. Eben darum machen sich die Menschen Sorgen. Zum Beispiel an einem Ort wie Ungarn, wo Victor Orbán und die Fidesz-Partei Schritt für Schritt jene rechtlichen und verfassungsmäßigen Kontrollen abgebaut haben, die einen Missbrauch zentralisierter Macht verhindern.

Seit 2010 ist Viktor Orbán Ministerpräsident von UngarnBild: picture-alliance/dpa/G. von der Hasselt

In Berlin wurde eine Mauer abgerissen. US-Präsident Donald Trump hingegen baut eine neue Mauer. Wird das Modell der liberalen Demokratie in den Vereinigten Staaten aufgegeben? Oder ist es nur eine vorübergehende Phase?

Ich hoffe, dass es eine vorübergehende Phase ist. In den Vereinigten Staaten sind die Institutionen im Grunde recht robust. So befinden wir uns derzeit in einem Amtsenthebungsverfahren - ein Mechanismus, um einen politischen Führer zu disziplinieren, der womöglich seine Macht missbraucht. Wir wissen nicht, wie sich dieser Prozess entwickeln wird. Trump versucht sicherlich, sein Bestes zu geben, um die "checks and balances"-Institution zu schwächen. Aber die wichtigste Einrichtung sind letztlich die Wahlen. Und 2020 werden wir eine Wahl haben. Wir werden sehen, wie dauerhaft die US-amerikanische Demokratie ist.

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