USA: Wie Musik die Proteste gegen den Vietnamkrieg anheizte
28. April 2025
Der Vietnamkrieg, in dem die USA an der Seite Südvietnams gegen den kommunistischen Norden kämpften, begann 1955 und endete am 30. April 1975 - dem Tag, als nordvietnamesische Truppen Saigon eroberten.
Für die meisten US-Amerikaner war es unfassbar, dass ihr Land trotz militärischer und politischer Größe eine Niederlage einstecken musste. Das Trauma saß tief, der Krieg hat sich in das kulturelle Gedächtnis der Vereinigten Staaten eingegraben.
Einer, der davon sprichwörtlich ein Lied singen kann, ist Justin Brummer. Der US-Historiker forscht zur musikalischen Hinterlassenschaft des brutalen und opferreichen Konflikts. Jahrzehntelang durchkämmte Brummer Plattenläden auf der ganzen Welt - auf der Suche nach Liedern zum Vietnamkrieg. Schließlich gründete er 2007 das digitale "Vietnam War Song Project (VWSP)". Mit seinen mehr als 6000 Songs ist es heute Teil des Gedächtnisses der US-Popkultur.
Allein 700 englischsprachige Protestsongs, zumeist Antikriegslieder, entstanden in den 1960er und frühen 1970er-Jahren in den USA, ergab Brummers Recherche. Darunter Songs von ikonischen Singer-Songwritern wie Joan Baez, Bob Dylan, John Lennon oder dem Soul-Musiker Marvin Gaye.
"Die 1960er-Jahre waren eine wichtige Zeit des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels, in der traditionelle Schranken fielen und die Jugendmusik explodierte", sagt Brummer über das reiche Erbe der Protestmusik aus diesen Jahren. Beim Radiohören, Fernsehen, an Universitäten oder auf Festivals - eigentlich nirgends, wo Musik erklang -, kam man am Vietnamkrieg vorbei. Sogar die eher konservative Country-Musik äußerte sich kritisch über den Vietnam-Feldzug, weil die Kriegskosten und Verluste ins Unermessliche stiegen.
Proteste: "Wofür kämpfen wir?"
Angesichts der Vielzahl der Lieder sei es schwierig, die wichtigsten zu identifizieren, aber einige "Essentials hätten sich herauskristallisiert, wie Brummer gegenüber der DW feststellt. So prangerte der oft gecoverte Nummer-Eins-Hit "Eve of Destruction" (1965) von Barry McGuire den Vietnamkrieg als "Vorabend der Zerstörung" an und warnte vor der nuklearen Bedrohung.
"Draft Dodger Rag" (1965) von Phil Ochs war besonders in der politischen Aktivistenszene beliebt. "Ochs war einer der führenden Protestsänger und spielte in den 1960er und frühen 1970ern häufig auf Antikriegs- und Bürgerrechtsdemos", erklärt Brummer. "The Universal Soldier", von der Kanadierin Buffy Sainte-Marie geschrieben und 1965 durch Donovan populär geworden, diskutierte die Verantwortung des Einzelnen. "I-Feel-Like-I'm Fixin'-to-Die Rag" (1967) von Country Joe & The Fish wurde ebenfalls ein Hit und sorgte für einen der berühmtesten Woodstock-Auftritte. Mit seinem Refrain "1, 2, 3, wofür kämpfen wir? - Frag mich nicht, es ist mir scheißegal!" brachte er das Publikum zum Rasen.
"Fortunate Son" (1969) von Creedence Clearwater Revival beklagte, im Krieg würden die Söhne der einfachen Leute verheizt. "I Should Be Proud" (1970) von Martha and the Vandellas stellte Patriotismus und Heldentum in Frage. Und "Ohio" (1970) von Crosby, Stills, Nash & Young kritisierte den brutalen Polizeieinsatz bei den Vietnamkriegs-Protesten am 4. Mai 1970 an der Kent-State-Universität in Ohio. Polizisten erschossen dabei vier Studierende, was landesweit Proteste auslöste.
Gemeinsames Erleben
Je länger der Vietnamkrieg dauerte, desto mehr bedrückende Nachrichten erreichten die Heimat. Immer mehr Antikriegs-Songs entstanden. Die US-Protestkultur wuchs. In den 1960er-Jahren besaßen Millionen von Amerikanern tragbare Radios, Plattenspieler und später auch Audiokassetten (die 1963 eingeführt wurden). So wurde Protestmusik allgegenwärtig - in Autos ebenso wie in Küchen, Wohnzimmern oder Parks.
Nicht zuletzt in Vietnam hörten US-Soldaten diese Musik, die aus der Heimat mitgebracht und bei Auftritten populärer Acts sogar live gespielt wurde.
Die Zeit der Festivals
Eine Reihe ikonischer Momente brannten sich in das kulturelle Gedächtnis der USA ein. Dazu zählt "Composers and Musicians for Peace" (1968), ein großes Konzert in New York, das dem kurz vorher ermordeten Martin Luther King gewidmet war. Und natürlich Woodstock (1969), ein dreitägiges Open-Air-Festival in der Kleinstadt Bethel im Bundesstaat New York. Vor rund 400.000 Menschen traten 32 Bands und Solokünstler auf, darunter Stars wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und The Who. Woodstock verkörpert bis heute den Mythos eines friedliebenden, künstlerischen und "anderen" Amerikas.
Doch auch auf andere Konzerten, Festivals und Demos weitete sich die Protestkultur aus. So kamen im November 1969 rund 250.000 Protestierende nach Washington, D.C., und mehrere Hunderttausend Menschen versammelten sich in San Francisco, um ein Ende des US-amerikanischen Vietnam-Desasters zu fordern. In die Geschichtsbücher schrieben sich die sogenannten May-Day Proteste von 1971 ein, als mehr als 12.000 Menschen von der Polizei abgeführt wurden - eine der größten Massenverhaftungen in der Geschichte der USA. Den Soundtrack dazu lieferten die vielen Hundert Protestsongs jener Tage.
Die vietnamesische Perspektive
Es überrascht kaum, dass in der Protestmusik im Nordamerika der 1960er und 1970er-Jahre die vietnamesische Sicht keine Rolle spielte. Dabei starben mindestens 1,3 Millionen vietnamesische Soldaten. Auf amerikanischer Seite fielen rund 58.000 Soldaten. Die Zahl der getöteten Zivilisten lag zwischen ein und zwei Millionen.
Brummer zufolge wurden allein im kommunistischen Nordvietnam während des Krieges Hunderte von politischen Liedern veröffentlicht. Die meisten erschienen auf dem staatlichen Dihavina-Label.
"Ein Großteil dieser Musik war als Nhạc đỏ ('Rote Musik') bekannt", erklärt der Musikhistoriker. "Eine Musik, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte und Elemente der westlichen klassischen Musik enthielt, während sich die Texte auf Sozialismus und Unabhängigkeit konzentrierten und eine antiimperialistische oder antikolonialistische Stimmung zum Ausdruck brachten."
Ein bekanntes Beispiel war der vietnamesische Komponist, Poet und Maler Trịnh Công Sơn (1939-2001). Wegen seiner Antikriegslieder in den 1960er-Jahren galt er als der "Bob Dylan Vietnams". Aufgrund seiner Texte fiel er sowohl in Nord- als auch in Südvietnam bei den Zensoren in Ungnade.
Weiterleben der Proteste
Vietnam sollte auch nach dem Kriegsende ein wichtiges Thema der Popkultur bleiben. Es erschienen einflussreiche Antikriegsfilme wie "Apocalypse Now" (1979), "Platoon" (1986) und "Full Metal Jacket" (1987), jeweils mit weltberühmten Soundtracks, darunter "The End" von "The Doors". Darin heiß heißt es: "This is the end, my only friend".
Auf der großen Pop-Bühne erzielten Bruce Springsteen mit "Born in the USA" (1984) und Paul Hardcastle mit "19" (1985) kommerzielle Erfolge – und stießen neue Debatten an. Unter den inzwischen mehr als 6.000 Lieder mit Vietnamkriegsbezug finden sich auch viele Neuinterpretationen von Klassikern. Historiker Justin Brummer hat sie alle in seinem Archiv versammelt - samt Texten und Interpretationen.
Wandel der Musikszene
"Es gibt heute eine Menge Musik mit politischem Bewusstsein. Was es nicht gibt, ist großartige Musik, die sich mit den Kriegen auseinandersetzt und gleichzeitig sehr populär und weit verbreitet ist", sagte Craig Werner, Co-Autor von "We Gotta Get Out of This Place: The Soundtrack of the Vietnam War"(Deutsch etwa: "Wir müssen hier weg: Der Soundtrack des Vietnamkriegs), 2017 dem Magazine "Time".
Tatsächlich fehlt es heute, anders als während des Vietnamkriegs, an einer popkulturell getriebenen Protestbewegungen. Politische Posts finden sich auf Social-Media-Kanälen von Stars wie Taylor Swift. Es gibt Songs zur Unterstützung der Black Lives Matter-Bewegung von Künstlern wie Kendrick Lamar und Demos gegen die Trump-Regierung und ihren Berater Elon Musk. Doch eine breite Bewegung mit spezifischem Soundtrack und konkretem Ziel ist aktuell nicht auszumachen. An ihre Stelle ist der individualisierte Musikkonsum via Smartphone und Streaming-Dienst getreten. Der Sound des Protests gegen den Vietnamkrieg hallt gleichwohl nach.