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Politik

Giscard d'Estaing - ein europäischer Visionär

Andreas Noll
3. Dezember 2020

Er war einer der Väter des Euro, doch seine Vision eines noch engeren Europas scheiterte. Nun ist Frankreichs früherer Präsident Valéry Giscard d'Estaing 94-jährig an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben.

Frankreich  Ex-Präsident  Valery Giscard  d'Estaing
Bild: Morris MacMatzen/REUTERS

Vielleicht war es der dunkelste Tag in seiner politischen Laufbahn, ganz sicher aber eine tiefe Kränkung und persönliche Niederlage: Das "Non" der Franzosen in der Volksabstimmung zur Europäischen Verfassung hat Valéry Giscard d'Estaing noch lange nach dem 29. Mai 2005 beschäftigt. Als Präsident des europäischen Verfassungskonvents hatte er die widerstrebenden Interessen von damals 25 EU-Staaten zusammengeführt und sein politisches Gewicht für diesen großen Integrationsschritt in die Waagschale geworfen.

An der Tragweite des Vorhabens ließ er keine Zweifel: "Lassen Sie uns jetzt von Europa träumen", warb der bürgerlich-liberale Politiker um Unterstützung bei seinen Landsleuten. Doch die Franzosen, so war er sich in der Rückschau sicher, missbrauchten die Abstimmung als ein auch innenpolitisch motiviertes Protestvotum.

Das Konzept einer europäischen Verfassung war damit gescheitert, einige Kernpunkte aber überlebten und wurden zwei Jahre später in den Reformvertrag von Lissabon geschrieben - ganz im Sinne des politischen Strategen Giscard, der dem "Projekt Europa" einen wichtigen Teil seines Lebens widmete.

Bei der Eroberung von Konstanz sitzt er im ersten Panzer

Für die Einigung Europas und eine enge deutsch-französische Freundschaft kämpfte Valéry Giscard d'Estaing auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Vergangenheit. Geboren in Koblenz am 2. Februar 1926 als Sohn eines Offiziers der Besatzungsarmee, gelangt Giscard 1945 als junger Soldat mit den Streitkräften des Freien Frankreichs wieder nach Deutschland. Krieg und Feindschaft zwischen den beiden großen Mächten Kontinentaleuropas: Das war die Konstellation in Europa, als Giscard seine Karriere begann.

Giscard bei der Wahl 1974: Jüngster Präsident in der Geschichte der französischen RepublikBild: AFP/Getty Images

Das Rüstzeug für seinen schnellen Aufstieg im französischen Staatsdienst erwarb sich der später vierfache Familienvater an gleich zwei der renommiertesten Elite-Hochschulen des Landes. Mit 30 wechselte der Beamte von der Verwaltung in die Politik, wo er als brillanter Kopf schnell auf sich aufmerksam machte: erst als Staatssekretär, dann als Finanzminister und schließlich - nach dem überraschenden Tod von Präsident Georges Pompidou - wurde Valéry Giscard d'Estaing 1974 mit 48 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte der französischen Republik.

Liberale Reformen für Frankreich

Im Élysée präsentierte sich der "Neue" als Modernisierer: Er liberalisierte das Abtreibungsrecht, senkte das Alter der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre und kämpfte für ein neues Scheidungsrecht. Doch in seine Amtszeit fielen auch die Ölkrise und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Besonders zu schaffen machte ihm die politische Konkurrenz im eigenen Lager. Sein umtriebiger erster Premierminister Jacques Chirac sorgte durch eine eigene Parteigründung mit dafür, dass der bürgerlich-liberale Präsident 1981 den Elysée-Palast nach nur einer Amtszeit wieder verlassen musste. Die Affäre um geschenkte Diamanten afrikanischer Diktatoren beschädigte darüber hinaus sein Ansehen in der Öffentlichkeit.

Staatslenker Giscard und Schmidt (1974): Freundschaft bis ins hohe AlterBild: Keystone/Hulton Archive/Getty Images

War die Reform des Staates bei Amtsantritt sein wichtigstes Anliegen, konzentrierte sich Giscard schnell auf die Außenpolitik. Mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt bildete der Franzose ein schlagkräftiges Duo, das mit dem Europäischen Währungssystem die Grundlagen für die Gemeinschaftswährung Euro legte und den Einigungsprozess auf dem Kontinent vorantrieb. Auch die Treffen der westlichen Staats- und Regierungschefs in kleiner Runde (G7) gehen auf seine Initiative zurück.

Schlagzeilenträchtiges Privatleben

Privat erregte Giscard d'Estaing, dessen Vater aus einer großbürgerlichen Familie stammte und den Adelstitel in den 1920er-Jahren gekauft hatte, auch durch seinen Lebensstil Aufmerksamkeit. In seiner Heimat Auvergne residierte "VGE", wie die Franzosen ihren Präsidenten gerne nannten, in einem Schloss, dem 2005 ein weiteres folgte.

Ex-Präsident Giscard mit einer Folkloregruppe in Paris (1991): Volksnah mit schillerndem PrivatlebenBild: Georges Bendrihem/AFP/Getty Images

Bei seinen Landsleuten unvergessen ist auch ein Autounfall des amtierenden Präsidenten - "in Begleitung", wie die Presse es damals höflich umschrieb - auf der zentralen Place de la Concorde in Paris. Mit seinem Privatwagen rammte VGE im Morgengrauen einen Milchlastwagen. Und so waren die Franzosen keineswegs überrascht, als Giscard d'Estaing 2009 eine andere Bekanntschaft thematisierte. In seinem Roman "Die Prinzessin und der Präsident" deutete der Präsident a.D. eine Affäre mit Lady Diana in den 1980er Jahren an.

Sorge um die Zukunft Europas

Für seine Verdienste um die Einheit Europas wurde Giscard vielfach ausgezeichnet. Er war Ehrenbürger seines Geburtsortes Koblenz, erhielt den Aachener Karlspreis genauso wie den Westfälischen Friedenspreis. Im Dezember 2003 nahm ihn die ehrwürdige Académie Francaise in die "Reihe der Unsterblichen" auf.

Autobiograph Giscard mit seinen Memoiren (2006 in Lille): Affäre mit Lady Di?Bild: Philippe Huguen/AFP/Getty Images

Mit seinem deutschen Verhandlungspartner Helmut Schmidt verband Giscard bis zuletzt eine lange persönliche Freundschaft. Immer wieder ging es bei diesen Treffen der Staatsmänner aus der Kriegsgeneration um die Zukunft Europas.

So auch bei ihrem letzten Aufeinandertreffen im Frühjahr 2013 in Paris, als Giscard eine Vision vom Europa des Jahres 2030 zeichnete: einheitliche Renten und Sozialleistungen, eine starke Einheitswährung und dieselben Haushaltsregeln wünschte sich der damals 87-Jährige für die Zukunft. Erleben durfte er diesen Integrationsschritt aber nicht mehr.

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