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Valentin Silvestrov: "Was macht ihr Kremlteufel?"

16. März 2022

"Das Gesicht Russlands ist nicht Putin, sondern die russische Kultur", sagt Valentin Silvestrov. Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten der Ukraine sprach mit der DW über den Krieg in seiner Heimat.

 Komponist Valentin Silvestrov nach der Ankunft in Berlin
Valentin Silvestrov ist nach Berlin geflohenBild: DW

Valentin Silvestrov über den Krieg in seiner Heimat

05:14

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Valentin Silvestrov wollte bis zuletzt seine Heimatstadt Kiew nicht verlassen. Auf Drängen seiner Familie und seines Freundeskreises sowie unter dem Eindruck der zunehmenden Bedrohung entschied der 84-jährige Komponist schließlich doch, nach Berlin zu fliehen, wo er sich seit dem 8. März aufhält. Silvestrov ist einer der bedeutendsten Komponisten der ukrainischen und russischen Musiklandschaft.

DW: Valentin Vasilevich, wie haben Sie die letzten Tage in Kiew und die Evakuierung oder, treffender gesagt, die Flucht nach Deutschland erlebt?

Valentin Silvestrov: Ehrlich gesagt, ich wollte nicht weg. Eigentlich bin ich es schon leid, in einer Welt zu leben, in der so etwas passiert. Aber ich habe eine Tochter und eine Enkelin, beide sind jung. Sie müssen leben! Deshalb habe ich mich darauf eingelassen.

Wie nehmen Sie insgesamt das Geschehen wahr?

Da muss ich weiter ausholen, mit dem Maidan-Aufstand von 2014. Was jetzt passiert, ist ein tausendfach vergrößerter Maidan. Ich meine den Beschuss des Maidans, den letzten Tag. Das waren immerhin junge Leute, die da umkamen, sowohl Russen als auch Ukrainer, alle unbewaffnet. Und nun wird die ganze Ukraine und die ganze Welt zum Maidan. Maidan war eine Kammerversion, eine Art Trio oder Duett. Und jetzt ist es eine Orchesterversion. 

Eigentlich keine Lust, in einer solchen Welt zu leben: Silvestrov in BerlinBild: DW

Es ist neu Valentin Silvestrov, ein zurückgezogener Komponist leiser Musik, über Politik sprechen zu hören...

Ich habe mich nie mit Politik befasst, das stimmt. Und nun denke ich: Ein Ereignis, das vor dem Hintergrund dieses internationalen Schreckens gering erscheint, ist der eigentliche Schlüssel: die Vergiftung von Nawalny. Es war seltenes Glück, dass Nawalny einen der Mitarbeiter anrief, die ihn verfolgten, und dieser ihm erzählte, was sie mit seiner Unterhose gemacht hatten (russische Geheimdienste versuchten Alexej Nawalny mit einer vergifteten Unterhose umzubringen, Anm.d.Red.).

Nawalnys Unterhose ist eine Tatsache, die Licht auf alle Gräueltaten wirft, die im Putin-Regime zuvor begangen und angezweifelt wurden, etwa die Morde an Politkowskaja (russische Journalistin, 2006 getötet, Anm.d.Red.) und Nemzow (Kreml-Kritiker, 2015 ermordet, Anm.d.Red.). Das war auf einmal hundertprozentig klar! Und um diese Unterhose zu vergessen, beschloss er, zur Geopolitik überzugehen. Um damit seine persönliche Schande zu verbergen.

Wir alle dachten, das sei eine Art Provokation - wie Stalin es mit Finnland oder Hitler mit Polen getan hatte. Aber nein - er zog einfach los und fiel dort ein. "Entnazifizierung" nennt er das, und "Entmilitarisierung"! Er wollte in einem anderen Land für Ordnung sorgen, schau an! Es hat ihm nicht gefallen, dass sie dort ihre eigene Armee und eine eigene Sprache haben. Was hat er denn gedacht?

Und das noch: Angeblich führt Putin "punktgenaue Schläge" auf militärische Ziele aus. Und sind Soldaten keine Menschen? Ich nehme an, wenn er sich in den Finger schneidet, heult er auf. Dort sterben Menschen! Was macht ihr Kremlteufel?

Wir unterhalten uns gerade auf Russisch, das ist meine und Ihre Muttersprache. Dabei wurden Sie in Kiew und ich in Moskau geboren. Schließlich war eine der offiziellen Rechtfertigungen für Putins Krieg die Verteidigung der russischen Sprache.

Das ist eine dreiste Lüge! Wenn ein Imperium zerfällt, hinterlässt es eine Sprache. Das Römische Reich hinterließ das Latein, das Britische Imperium das Englische. Die russische Sprache ist ein solches Latein des postsowjetischen Raums. Aber die Sprache eines Imperiums ist nicht nur die Sprache einer Ethnie, sondern auch die Sprache, in der Kultur gemacht wurde.

Es gibt die große russische Kultur, die die Welt erobert hat - Malerei, Musik und Literatur. Schaut man sich aber das Schicksal dieser Menschen an, sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion, so wurden sie immer verfolgt.

Im Internet kursiert ein offener Brief ukrainischer Kulturschaffender mit dem Aufruf an internationale Institutionen - Buchmessen, Festivals, Konzerthäusern usw. -, jegliche Zusammenarbeit mit russischen Kulturinstitutionen komplett zu boykottieren und auch "Vertretern der Russischen Föderation die Teilnahme an internationalen Wettbewerben, Ausstellungen, Foren und anderen kulturellen Veranstaltungen" zu verbieten und damit aufzuhören, "über russische Kultur in den Medien zu berichten". Der Brief wurde auch von Ihnen unterzeichnet. Glauben Sie wirklich, dass es hilfreich ist, allerorts russische Künstlerinnen und Künstler sowie russische Kultur zu boykottieren?

Zerstörtes Haus in Kiew Bild: SOPA Images/ZUMAPRESS/picture alliance

Nein, das ist nicht richtig! Damit gießt man Wasser auf Putins Mühle. So kann er sagen: "Schaut, wie uns die ganze Welt terrorisiert! Was für ein Unglück für uns!" Das hilft ihm nur bei der Gehirnwäsche seines eigenen Volks. Geht es jedoch um Organisationen oder Personen, die Putin persönlich unterstützen, ist das eine andere Sache.

Derzeit wollen alle in Deutschland ukrainische Musik spielen, und es zeigt sich, dass sie hier fast unbekannt ist. Es gibt keine Noten, kein Repertoire. Und so ist überall nur die ukrainische Hymne und "Melodie" von Myroslaw Skoryk zu hören. Und natürlich Silvestrov. Welche ukrainische Musik gilt es zu kennen? 

Nun, mein Lehrer Ljatoschynski ist ein großer Komponist. Seine 3. Symphonie ist Weltklasse. Insgesamt sollte man aber verstehen, dass die ukrainische Musik, wie auch die russische, in erster Linie europäische Musik ist. Sie ist Teil der europäischen Kultur. Der Name Tschaikowski zum Beispiel ist in der Ukraine sehr verbreitet. Während einer meiner Folkloreexpedition, noch als Student, war ich auf einer Dorfhochzeit in der Westukraine - dort hieß der Bräutigam Tschaikowski! Und in Tschaikowskis Werk gibt so viel Ukrainisches...

Ganz zu schweigen davon, welche Rolle sowohl Ukrainer als auch Deutsche bei der Formierung der russischen Staatlichkeit gespielt haben. Alexander Besborodko, der über Jahrzehnte Russlands Außenpolitik bestimmte, wer war er? Ein ukrainischer Hetman! Und Katharina die Große? Sie war Deutsche.

Ja, Peter der Große hat das Fenster nach Europa aufgerissen. Und durch dieses Fenster kamen Poesie, Philosophie, Musik und Literatur hereingeströmt. Jetzt ging Putin hin und steckte durch dieses Fenster seinen Hintern. Einen Hintern mit rotem Atomknopf. Aber dieser Hintern ist nicht das Gesicht Russlands. Das Gesicht Russlands ist die russische Kultur.

Sucht Ruhe in der Musik: Valentin Silvestrov in seiner Berliner ZufluchtswohnungBild: DW

In Deutschland sagt man, "ein Ende mit Schrecken ist besser als ein Schrecken ohne Ende". Was meinen Sie, wie könnte dieses Ende aussehen?

Mir scheint, wenn sich in Russland ein Politiker fände, der sagt: "Sonntag um 12 Uhr gehen wir alle hinaus zu den Hauptplätzen in ganz Russland!" Und alle würden hinausgehen, mit ihren Kindern - dann wäre das ganze Übel vorbei. So aber gehen nur manche auf die Straße, und zehntausend Menschen oder mehr wurden verhaftet. So darf es nicht sein. Es braucht einen Ausgangspunkt. Sonst sieht es wie eine Billigung dessen aus, was Putin tut - das ist Schlauheit, die mit der russischen Mentalität in Verbindung steht. Der Russe ist gewieft: "Hilf dir selbst, so hilft dir Gott." Denken Sie an die Sowjetunion: wie sie von allen gestützt wurde. Und dann zerfiel sie auf einmal - und niemand im Land stützte sie mehr. Denn wer unterstützt Putin? Das sind Verbrecher. Diejenigen, für die Muttersprache bedeutet, jemanden "im Klo zu ertränken". Er hat diese Kriminellen rekrutiert und in feine Anzüge gesteckt.

Natürlich muss auch der Westen auf die Drohung mit einer Drohung reagieren. Du drohst uns mit Atomwaffen - wir drohen dir ebenfalls damit. Er ist doch ein Terrorist wie Bin Laden, nur tausendmal mächtiger. Man sollte ihn als internationalen Terroristen einstufen und zur Fahndung ausschreiben.

Sie sind mit leichtem Gepäck in Berlin angekommen, mit einem Koffer. Aber der Koffer ist voller Manuskripte. Verraten Sie das Geheimnis, was in Ihrem Koffer ist?

Nun, wir hatten ja eine Pandemie... Und da tropfte es die ganze Zeit, und ich stellte ein Becherchen aus Notenpapier darunter, und jetzt ist es vollgelaufen. 

Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.

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