"Europa muss lernen, auch mal still zu sein"
8. September 2015DW: Es gibt unzählige Bücher zur Geschichte Afrikas. Mit der aktualisierten Fassung ihrer "Geschichte eines bunten Kontinents" haben Sie dieses Jahr ein weiteres vorgelegt. Was hat Sie dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben?
Lutz van Dijk: Über 80 Prozent der Geschichtsbücher über den Kontinent wurden aus europäischer Sicht geschrieben - das wollte ich sehr deutlich vermeiden. Ich verstehe mich als Sammler, als Herausgeber. Mein Ziel war, afrikanische Stimmen zu versammeln, Afrikanerinnen und Afrikaner in historischen Dokumenten, aber auch in aktuellen Aussagen zu Wort kommen zu lassen. Damit möchte ich gleichzeitig eine junge Generation von afrikanischen Historikerinnen und Historikern ermutigen und ihnen auch in Europa eine Stimme geben.
Nun ist dieser Ansatz nicht mehr ganz neu. Schon seit einigen Jahren bemühen sich viele Autoren und Journalisten, ein ausgewogeneres Afrikabild zu präsentieren. Warum kommt ihr Buch denn gerade jetzt?
Seit der Erscheinung der ersten Ausgabe meines Buches vor zehn Jahren sind so viele grundsätzlich neue Dinge auf dem Kontinent passiert, dass eine Aktualisierung notwendig war. Dazu gehören der arabische Frühling, der Einfluss von China, neue Formen des Terrorismus und Gewalteskalationen nicht nur gegenüber ethnischen und religiösen, sondern auch sexuellen Minderheiten. Ein positives Beispiel möchte ich aber auch nennen: Bis vor zehn Jahren gab es seit dem Kolonialismus nicht eine einzige Frau an der Spitze eines afrikanischen Staates. Seither hatten wir immerhin drei Staatschefinnen in Afrika.
An vielen Stellen kritisieren Sie die ewigen Klischees über Afrika, das Bild des "schwarzen" Kontinents der Katastrophen, Kriege und Hungersnöte. Dennoch widmen auch Sie weite Teile ihres Buches eben jenen dunklen Kapiteln der afrikanischen Geschichte. Wie passt das zusammen?
Ich glaube, das gilt für die Geschichtsschreibung aller Kontinente, egal ob in Lateinamerika, Asien oder Europa. Überall gab es schreckliche Phasen und auch in der Gegenwart passieren immer wieder schreckliche Dinge - in Europa derzeit zum Beispiel in der Ukraine. Ich wünsche mir, dass Europa lernt, auch mal still zu sein und zuzuhören. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch einen kritischen Dialog führen können. Wenn man vor dem Hintergrund einer Idee von Demokratie oder Menschenrechten Kritik übt, ist es etwas anderes, als wenn man als Geschichtsschreiber einige Dinge schlicht weglässt - zum Beispiel die afrikanische Perspektive auf die Kolonialisierung.
Gerade das Thema Kolonialismus spielt in Ihrem Buch eine zentrale Rolle. Sie schreiben, dass längst nicht alle Verbrechen dieser Zeit aufgearbeitet, geschweige denn "gesühnt" sind. Welche Bedeutung spielt dieser Aspekt für die zukünftige Entwicklung des Kontinents?
Lassen Sie mich ein Beispiel geben: In Südafrika, wo ich seit 15 Jahren lebe und wo erst vor 20 Jahren mit dem Ende der Apartheid die koloniale Phase so richtig zu Ende ging, können wir - wie überall sonst auch - nicht mit Schwarz-Weiß-Interpretationen der Wirklichkeit gerecht werden. Vor allem der jungen Generation hilft es nicht, wenn alles immer auf die schreckliche Vergangenheit geschoben wird. Die jungen Leute möchten nicht mehr Entwicklungshilfeempfänger sein, sie möchten nicht, dass Europäer kommen und ihnen erzählen, was richtig und falsch ist. Stattdessen wollen sie gehört werden, sie wollen eine Ausbildung haben, die sie qualifiziert und aus der Rolle der Bittsteller dauerhaft befreit. Sie wollen die Chance, es anders zu machen als die alte Generation. Auch in Burkina Faso und in Burundi sind es die jungen Leute, die auf die Straßen gehen und gegen ihre langjährigen Präsidenten protestieren. Das ist viel mehr wert, als wenn irgendwelche Instanzen aus dem Westen solche Despoten kritisieren.
Sie kritisieren auch das System der Entwicklungshilfe, das Afrika stets in der Opferrolle verorte und Hilfe nur unter einem "Etikett der Minderwertigkeit" zur Verfügung stelle. Ist das System denn überhaupt reformierbar?
Ich halte es für nicht reformierbar - obwohl ich ja selbst in einem "Entwicklungsprojekt" in einem unserer Townships mitarbeite. Der entscheidende Unterschied jedoch ist, dass ich mich nicht als Lehrer verstehe, sondern als jemand der zuhört, der zur Verfügung steht, wenn er darum gebeten wird. Ich gebe aber selbst nicht vor, in welche Richtung es gehen soll. Ein Blick auf die Summen der Entwicklungshilfe zeigt, dass für ein Drittel Hilfe zwei Drittel wirtschaftlicher Profit aus den afrikanischen Ländern abgezogen wird. Es müssen strukturelle Veränderungen geschehen, damit zum Beispiel Rohstoffe nicht mehr sofort ausgeführt, sondern vor Ort verarbeitet werden. Ich sage nicht, dass Europa an allem Übel die Schuld trägt, das wäre unfair. Es gibt sehr viele hausgemachte Konflikte und schreckliche Despoten in Afrika. Wir müssen uns aber fragen, wie wir in einem partnerschaftlichen Dialog zuhören und Unterstützung leisten können, und nicht mehr nur von oben nach unten "helfen".
Zum Abschluss eine selbstkritische Frage: Was müssen Medienschaffende Ihrer Ansicht nach an ihrer Arbeit verbessern, um ein ausgewogeneres Bild des afrikanischen Kontinents zu transportieren?
Sie sollten weniger kommentieren, mehr zuhören und mehr Stimmen Afrikas selbst zu Wort kommen zu lassen. Es müssen Räume geschaffen werden, auch in Bezug auf konkrete Mitarbeit und Redakteursstellen, in denen Menschen aus Afrika ihre Form der Darstellung finden. Was ich bereits sehr positiv finde, ist, dass Flüchtlinge aus armen Ländern - ich lasse es bei dieser sehr vagen Formulierung - mittlerweile mit einer anderen Würde vorgestellt werden. Mich hat in den letzten Wochen sehr beeindruckt, dass viele Medien in Deutschland nicht nur das Flüchtlingsproblem als solches darstellen, sondern auch die Menschen, die Teil dieses Problems sind, zu Wort kommen. Es ist eine andere Empathie möglich, wenn wir Menschen in die Augen sehen, ihnen zuhören und so eine Begegnung auf gleicher Ebene ermöglicht wird.
Das Interview führte Jan Philipp Wilhelm.
Lutz van Dijk ist ein deutsch-niederländischer Historiker und Schriftsteller. Seit 15 Jahren lebt van Dijk in Kapstadt, Südafrika, und ist dort Ko-Direktor der Stiftung HOKISA, die sich für von AIDS betroffene Kinder einsetzt. Sein neues Buch "Afrika - Geschichte eines bunten Kontinents" ist eine überarbeitete Neufassung der 2004 erschienen "Geschichte Afrikas".