Van: Eine Stadt im Dauer-Ausnahmezustand
13. Dezember 2021"Ich habe den Putsch im Jahr 1980 miterlebt, ich habe schon so viele außergewöhnliche Dinge in meinem Leben gesehen. Aber so ein offen zur Schau gestellter Faschismus ist selbst mir neu." Ali Kalçık hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Er ist Einwohner der osttürkischen Stadt Van, einer Millionenstadt, die am größten türkischen See liegt, dem Vansee, nahe der iranischen Grenze.
Kalçık ist seit vielen Jahren Vorsitzender des Vereins Çev-Der, der sich für Umweltschutz und den Erhalt historischer Artefakte einsetzt. Doch seit rund 1850 Tagen ruhen die Aktivitäten des Vereins. Denn seitdem - also seit über fünf Jahren - herrscht in Van der Ausnahmezustand. Demonstrationen, öffentliche Veranstaltungen und Versammlungen sind offiziell untersagt.
Nach dem abgewehrten Putschversuch im Juli 2016 verhängte die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan den Ausnahmezustand für die gesamte Türkei - im Namen von Sicherheit und Terrorabwehr. In allen Provinzen und Gemeinden ist dieser 2018 offiziell ausgelaufen, nicht aber in Van. Seit dem 21. November 2016 hat der Gouverneur der Provinz Van das Kriegsrecht alle 15 Tage verlängert.
Das Ende des politischen Lebens
Die öffentlichen Aktivitäten von Parteien, Initiativen oder Nichtregierungsorganisationen sind seitdem stark eingeschränkt. Pressemitteilungen, Flugblätter, Petitionen, Protestmärsche, Sitzstreiks, Umfragen, Informationsstände - das alles muss zunächst der Gouverneur genehmigen. Selbst das kulturelle Leben ist überwiegend zum Erliegen gekommen: Konzerte oder Theateraufführungen sind seither eine Seltenheit. Auch das Engagement von Ali Kalçık schränken diese Maßnahmen ein. Einmal sei es dem Verein gelungen, eine Genehmigung für eine Aktion zu erhalten, sagt er. Trotzdem habe die Polizei sie dann massiv behindert.
"Wir wollten am Weltumwelttag ein Zeichen setzen, sind mit drei Pressevertretern und drei Mitgliedern von Çev-Der nach Erciş am Vansee gefahren. Hunderte von Sicherheitsleuten, Dutzende Polizeiautos und gepanzerte Militärfahrzeuge haben uns in den Ort eskortiert." Ohne Pause hätten sie ihren überschaubaren Konvoi belagert. Was Kalçık noch mehr ärgert: Auf regierungsnahe Veranstaltungen dieser Art werde nicht solch ein Druck ausgeübt.
Juristische Gegenwehr scheitert
Es gibt auch Widerstand gegen die Verordnungen des Gouverneurs Mehmet Emin Bilmez. Wiederholt haben einheimische Rechtsanwälte versucht, dem Ausnahmezustand in Van gerichtlich ein Ende setzen zu lassen. Doch vergeblich: Die Gerichte haben alle Anträge abgelehnt. Mahmut Kaçan ist einer der streitbaren Anwälte. Einmal sei er sogar in die nächste Instanz gegangen, erzählt er - doch auch das Oberverwaltungsgericht in Erzurum sah keinen Grund, den Ausnahmezustand aufzuheben.
Für Kaçan ist das ein Skandal, weil das Recht auf Demonstrationen und Versammlungen von der türkischen Verfassung garantiert werde. "Sowohl das türkische Verfassungsgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben wiederholt gegen die Fortsetzung der Verbote entschieden", ergänzt Kaçan.
Vor einigen Tagen hat der Gouverneur, wie in den vergangenen Jahren üblich, den Ausnahmezustand um weitere 15 Tage verlängert. Begründung: Das schütze Grundrechte, Sicherheit und Eigentum der Bürger sowie die öffentliche Ordnung und verhindere Gewalt und terroristische Aktivitäten.
Behörden messen mit zweierlei Maß
Der Çev-Der-Vorsitzende Ali Kalçık empfindet diese Rechtfertigung als scheinheilig: "Der Gouverneur behauptet, dass es hauptsächlich um Sicherheit gehe. Warum werden dann die zahlreichen Aktivitäten der Regierungspartei AKP und ihrer Anhänger zugelassen?" Da drückten die Behörden ein Auge zu, so Kalçık. "Es gibt zurzeit kein Sicherheitsproblem in unserer Region. Diese Behauptung ist nur ein Druckmittel, um die Stimmen der Opposition zum Schweigen zu bringen." Und er prangert erneut das an, was er "puren Faschismus" nennt.
Die Verbote wirken sich auf alle Parteien in Van aus - mit Ausnahme der AKP. Am stärksten betroffen ist die prokurdische HDP. Dass sie bei den Kommunalwahlen im März 2019 rund 54 Prozent der Stimmen erhielt, ist darum ein kleines Wunder: Denn fast alle ihre Aktivitäten außerhalb des Parteigebäudes sind verboten. "Der Ausnahmezustand behindert die Arbeit von allen Parteien, die in Van als Opposition gelten", berichtet Ali Kalçık. Das beträfe neben der HDP vor allem die größte Oppositionspartei CHP. "Gegen Parteimitglieder werden ständig Bußgelder verhängt."
Van nur eine Blaupause?
Dass die Behörden ganz ungeniert mit zweierlei Maß messen, empört auch viele Bewohner von Van - so zuletzt, als AKP-Mitglieder auf belebten Straßen Stände aufbauen durften, um für den Parteieintritt zu werben, während der Gouverneur einen Stand der HDP, die ebenfalls Mitglieder rekrutieren wollte, verbot.
Rechtsanwalt Mahmut Kaçan glaubt sogar, dass der ewige Ausnahmezustand in Van auf höchster Ebene entschieden werde, außerhalb der Provinz, und dass der Gouverneur lediglich Anweisungen aus Ankara befolge. Der Ausnahmezustand mit seinen Einschränkungen, so vermutet er, könnten bald auch wieder über andere Städte verhängt werden.
Tatsache ist, dass es der Regierung zupass käme, die Opposition mit Notverordnungen so weit wie möglich auszubremsen. Die Umfragewerte der Regierungspartei AKP waren noch nie so schlecht - die größte Oppositionspartei CHP ist jüngst bei den Umfragen an Erdogans Partei vorbeigezogen.
Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut.