Varhelyi: Westbalkan hat Priorität für die EU
5. Mai 2020Deutsche Welle: Der Gipfel der EU mit den Westbalkan-Staaten wird nicht über eine EU-Erweiterung als solche sprechen. Worum soll es bei dem Gipfel denn dann gehen?
Oliver Varhelyi: Der Gipfel behandelt die gesamte Region des westlichen Balkans. Sie wissen ja, dass der Balkan eine sehr vielfältige Region ist. Wir haben zwei Staaten, mit denen wir bereits über Mitgliedschaft verhandeln. Wir haben ebenfalls zwei Staaten, bei denen wir gerade entschieden haben, dass Verhandlungen beginnen können. Und wir haben zwei weitere Staaten, die noch nicht einmal Kandidaten sind. Erweiterung ist also nur ein Element. Natürlich wird es ein Thema sein. Es geht um die europäische Perspektive, die ein anderes Wort für Mitgliedschaft ist. Es geht aber auch um strategische Entscheidungen, die wir für den Westbalkan treffen müssen.
Wie verändert die Corona-Pandemie ihren strategischen Ansatz und ihre Politik für den Westbalkan?
Ich glaube, die Pandemie hat unsere Verpflichtung gegenüber dem Westbalkan noch verstärkt. Wenn Sie sich anschauen, was wir da jetzt machen, dann sehen Sie, dass wir praktische Hilfen sofort in alle sechs Staaten geschickt haben. Wir haben vom ersten Tag an den Kontakt gesucht, um ihnen in der Krise zu helfen. Das zweite zentrale Element ist natürlich die Notwendigkeit, in der Region jetzt strategisch zu investieren. Das gilt sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft. Wirtschaftlich könnten und sollten wir viel mehr tun. Ich hoffe, dass ich in dieser Hinsicht möglichst klare Botschaften der Staats- und Regierungschefs bekomme.
Montenegro und Serbien sind die Staaten, die am weitesten auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft sind, obwohl der serbische Präsident Aleksandar Vucic gerade in jüngster Zeit beklagt, dass die EU ihn in der Pandemie alleine gelassen hat. Er sagt, es gebe keine europäische Solidarität. Was sagen Sie dazu? Neigt er jetzt mehr China oder den USA zu?
Na ja, das höre ich immer wieder. Aber wenn man sich anschaut, was Präsident Vucic in den vergangenen Wochen gesagt hat, dann sieht man, dass er jetzt sehr dankbar ist für unsere Solidarität, die er aus Europa erfahren hat. Ich denke, seine öffentlichen Botschaften waren hier sehr klar. Dass, was wir geliefert haben, hatte Sinn und Verstand. Man sieht die echte Hilfe vor Ort. Das liegt jetzt alles hinter uns. Hilfe ist Hilfe, ob sie nun von uns oder anderen kommt. Wenn wir helfen können, sollten wir es tun.
Albanien und Nord-Mazedonien warten auf die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. Frankreich hat zuvor eine Überarbeitung des Beitrittsprozesses gefordert und auch erhalten. Jetzt droht gerade Bulgarien mit einem Veto für die Verhandlungen mit Nord-Mazedonien. Ist die EU wirklich bereit für ernsthafte Verhandlungen über eine Mitgliedschaft?
Ja, das denke ich schon. Die EU ist bereit. Es gab eine sehr klare Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten im März, als wir alle zugestimmt haben, die Verhandlungen mit beiden Staaten zu beginnen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das jetzt auch machen. Ich denke, diese Dinge sind Teil der europäischen Verhandlungskultur, dass es hie und da Rückschläge oder Fortschritte gibt. Am Ende aber zählt das Resultat. Wenn Sie sich die Leistungen der gegenwärtigen EU-Kommission anschauen, dann erkennen Sie, dass wir das Thema Westbalkan und Erweiterung wieder auf die Tagesordnung gepackt haben. Die Chefs werden sich damit beschäftigen, sogar mitten in der Coronakrise. Ich denke, das ist ein sehr klares Bekenntnis auf Seiten der EU.
Haben Sie ein konkretes Datum für den Beginn der Verhandlungen mit Nord-Mazedonien und Albanien im Kopf? Wann fangen Sie an?
Na ja, verstehen Sie, mit der Coronakrise auf der Tagesordnung ist es sehr schwierig, Ihnen jetzt ein Datum zu nennen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir auf unserer Seite sehr, sehr hart arbeiten, um unseren jährlichen Erweiterungsbericht vorzulegen. Darin werden wir dann einen Vorschlag für einen konkreten Verhandlungsrahmen machen. Das ist der erste Schritt hin zu echten Verhandlungen. Die EU-Kommission vergeudet keine Zeit. Wir tun alles, um den Prozess so schnell wie möglich vorwärts zu bewegen.
Kosovo und Bosnien-Herzegowina sind noch weit von förmlichen Beitrittsverhandlungen entfernt. Wann werden zum Beispiel Kosovo und Serbien jemals ihren Konflikt um Staatlichkeit und Grenzen beilegen können? Sehen Sie eine Chance?
Ich glaube, es wird eine Gelegenheit geben nach den Wahlen in Serbien (21. Juni 2020, Anm. d. Red.). Ich hoffe, dass wir dann sehr schnell anfangen können, an einer Lösung zu arbeiten. Ich habe sehr positive Signale im Zusammenhang mit dem Coronavirus gesehen. Die "grünen Fahrspuren", die für den freien Warenverkehr und Lastwagen über Grenzen hinweg in der gesamten Union eingerichtet wurden, sind auch in der gesamten Westbalkan-Region eingerichtet worden. Das ist ein sehr positives Signal. Das ist sehr vielversprechend, wenn es darum geht, die letzten Probleme zwischen Kosovo und Serbien zu lösen.
Die USA hatten eine Vereinbarung zwischen Kosovo und Serbien vermittelt, die nun aber in Kosovo anscheinend wieder gescheitert ist. Sind die USA eine Art Konkurrenz für Sie bei der Lösung dieser Frage?
Sehen Sie, hier geht es nicht um ein Wettrennen. Dieses Problem ist viel wichtiger als die Frage, wer sich am Ende mit einem Vermittlungserfolg schmücken darf. Wichtig ist, überhaupt eine Lösung zustande zu bringen. Wir sind strategische Partner der USA in dieser Region. Wir sollten Hand in Hand arbeiten. Was meinen Teil angeht, bin ich mehr als bereit, dazu beizutragen. Ich werde mich weiter so stark wie möglich einbringen.
Welche Perspektiven sehen Sie für Bosnien-Herzegowina? Fällt das Land nicht immer weiter zurück, wenn es um Erweiterungsfragen geht? Ist es ein Schlusslicht?
Nein, das denke ich nicht. Seit nun endlich eine Regierung im Amt ist, hat sie bereits ernsthafte Entscheidungen getroffen. Vor einigen Tagen ist es der Regierung gelungen, sich auf alle 14 vorrangigen Aufgaben zu verständigen, die erfüllt werden müssen, bevor Bosnien ein Kandidat für den Beitritt werden kann. Wir hatten ja eine Liste mit 14 Anforderungen aufgestellt, die auf dem Weg zur Mitgliedschaft erfüllt werden müssen. Wir haben jetzt einen konkreten Fahrplan verabschiedet. Das macht mir Hoffnung, dass es hier vorangeht und ich mit der Führung in Bosnien-Herzegowina sehr schnell ins Gespräch komme. Wir sollten Fortschritte erreichen können, wenn auch vielleicht noch nicht bis zum Ende des Jahres, aber der Fortschritt bleibt mein persönliches Ziel.
Kroatien als EU-Ratspräsident muss sehr enttäuscht sein, dass es nun keinen glanzvollen Gipfel in Zagreb gibt, sondern nur ein Videotreffen. Sollte man den Gipfel so bald wie möglich in persona wiederholen oder nachholen?
Wichtig ist jetzt, dass die Staats- und Regierungschefs entschieden haben, das Treffen jetzt abzuhalten, trotz allem, auch wenn es nur ein Videogipfel ist. Es ist ein Signal für alle, nicht nur für die Region, dass wir es wirklich ernst meinen, wenn es um den Westbalkan geht. Wir sehen ihn als eine europäische Priorität. Natürlich wäre es sehr wichtig, sich an einen Tisch zu setzen, wenn wir über den Plan für wirtschaftliche Investitionen nach der Krise reden. Ich hoffe, wir können das bald machen.
Die Fragen stellte Bernd Riegert.
Oliver Varhelyi (48) ist EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik. Der ungarische Diplomat war zuvor Ständiger Vertreter seines Landes bei der Europäischen Union in Brüssel. Varhelyi war 2004 an den Verhandlungen über den Beitritt Ungarns zur EU beteiligt.