Goldener Löwe geht nach Schweden
6. September 2014Will man die Entscheidung der Jury interpretieren, kann sie eigentlich nur eines bedeuten: Der Goldene Löwe ehrt in diesem Jahr einen Film, der ein Kunstwerk sein will, der zwar auch eine Botschaft haben mag, der aber in erster Linie für sich selbst steht. Neben all den ernsten, politischen Filmen, die auf aktuelle und historische Geschehnisse Bezug nehmen, ist Roy Anderssons Film ein klares Statement für das Kino als eigenständiges künstlerisches Medium.
Kunst vor Botschaft
Insofern ist die Entscheidung der Jury um den französischen Filmkomponisten Alexandre Desplat bemerkenswert. Unter den 20 Filmen, die sich in diesem Jahr um den Goldenen Löwen bewarben, ist "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" eindeutig derjenige, der am radikalsten Kunst vor Botschaft setzt, Form vor Inhalt, Ästhetik vor Ideologie.
In "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" (etwa: Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über die Existenz der Welt nach) werden einzelne Sequenzen mosaikartig aneinandergereiht, von einer Handlung im konventionellen Sinn kann keine Rede sein. Ein paar Filmcharaktere tauchen mehrmals auf, manche sind nur einmal zu sehen. Die Kamera bleibt starr, die Bilder wirken wie ausgebleicht, sind sorgsam arrangiert, ähneln surrealen Bildtableaus. Die Schauspieler agieren zurückhaltend, die Mimik bleibt sparsam.
Finanziert auch mit deutschen Fördergeldern
Es sind Szenen über das Groteske im Leben der Menschen, man könnte sie kafkaesk nennen, surreal, absurd. Manchmal vermischt Roy Andersson sogar die Zeiten, lässt etwa in einer Sequenz das Heer des schwedischen Königs aus früheren Jahrhunderten in einer Bar der Gegenwart pausieren. Roy Andersson, 1943 in Göteborg geboren, ist einer der bekanntesten Regisseure seines Landes. Einen großen Erfolg feierte er im Jahre 2000 mit dem Film "Songs from the Second Floor". Sein neuer, nun ausgezeichneter Film, entstand mit Fördergeldern aus seinem Heimatland, aus Norwegen, Frankreich sowie aus Deutschland.
Der zweitwichtigste Preis des Festivals ging an ein Werk, das man als das genaue Gegenteil des Siegerfilms bezeichnen könnte: "The Look of Silence" des US-Amerikaners Joshua Oppenheimer. Eine Dokumentation über ein düsteres Kapitel indonesischer Geschichte. Oppenheimer, der sich mit dem Thema Indonesien schon in seinem letzten, oscarprämierten Film "The Act of Killing" beschäftigt hatte, wendet sich diesmal der direkten Konfrontation von Opfern und Tätern zu. In den 1960er Jahren wurden in Indonesien hunderttausende Menschen von paramilitärischen Einheiten ermordet - unter Deckung der Regierung. Verbrechen, die bis heute nicht aufgearbeitet sind. In "The Look of Silence" konfrontiert der Regisseur auf eindrucksvolle Weise Angehörige damals ermordeter Menschen mit den Tätern von einst.
Preis für einzigen Debütfilm im Wettbewerb
Das deutsche Kino durfte sich am Abend der Preisverleihung in Venedig dann noch einmal freuen. Nicht nur der Gewinner des Goldenen Löwen wurde von Deutschland mit produziert. Der Spezialpreis der Jury ging an einen in Deutschland lebenden Regisseur. Überraschend gewann der in Berlin lebende Kaan Müjdeci für sein Debüt "Sivas", eine türkisch-deutsche Co-Produktion, den Spezialpreis der Jury. Darin erzählt der 33jährige Filmemacher von dem elfjährigen Jungen Izci und seinem Hund. "Sivas" spielt in der tiefen türkischen Provinz. Das Tier wird von Izci als Kampfhund eingesetzt, der Kleine verschafft sich damit Respekt bei den Älteren. Für Regisseur Müjdeci symbolisiert die Welt der Hunde und des Kampfsports die Männerwelt mit all ihren Ritualen und Verhaltensweisen.
Der Silberne Löwe für die beste Regie ging in diesem Jahr nach Russland. Altmeister Andrej Konchalovsky durfte sich über die Auszeichnung für seinen Film "The Postman's White Nights" freuen. Darin erzählt der 1937 geborene Regisseur in ruhigen Einstellungen von einer Handvoll Menschen, die abseits der Zivilisation leben. Ein fast dokumentarisch anmutender Spielfilm, eine filmische Philosophie über Einsamkeit und das Leben in der Stille.
Schauspielerpreise gehen nach Italien
Die Darstellerpreise gingen an eine italienische Produktion. Alba Rohrwacher und der US-Amerikaner Adam Driver spielen in dem Film "Hungry Hearts" von Regisseur Saverio Costanzo ein junges Paar, das sich gerade kennengelernt hat und ein Kind erwartet. Bei der Frau entwickelt sich eine psychische Störung, die das Leben des Kindes gefährdet und die Beziehung des Paares auf eine harte Probe stellt. Ein emotional packendes, hochsensibles Drama um zwei Menschen in der Krise.
Den französischen Filmkomponisten Alexandre Desplat berieten in der Venedig-Jury in diesem Jahr unter anderem der deutsche Regisseur Philip Gröning und die österreichische Filmemacherin Jessica Haussner. Sie und die anderen Jurymitglieder haben vertretbare, wenn auch überraschende Entscheidungen gefällt. Viele Kritiker hatten damit gerechnet, dass der Goldene Löwe an einen politischen Film geht oder auch der Eröffnungsfilm des Festivals, "Birdman" des Mexikaners Alejandro González Iñárritu, eine Auszeichnung erhält. Der ging jedoch leer aus - ebenso wie der deutsche Beitrag "The Cut" von Fatih Akin.