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Politik

Venezuela: Demokratie unter Beschuss

28. Juli 2017

In Venezuela wird eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt. Kritiker halten Präsident Maduro vor, diese als Machtinstrument missbrauchen zu wollen. Sie fürchten, es könnte sogar zu einem Bürgerkrieg kommen.

Venezuela - Krise
Ein bewaffneter Demonstrant in CaracasBild: Reuters/U. Marcelino

Erneute Ausschreitungen in Venezuela

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Den venezolanischen Präsidenten müsse man sich als eine Striptease-Tänzerin vorstellen. Er entkleide sich Stück für Stück, um irgendwann ganz nackt da zu stehen. Nachdem er das schmückende Beiwerk von Rechtsstaat und Demokratie abgelegt habe, sei der Moment gekommen, in dem man erkenne, wer der Präsident wirklich sei: "ein schlichter und vulgärer Diktator, wie es so viele in der traurigen Geschichte Lateinamerikas gegeben hat."

Die der Opposition nahe stehende Zeitung El Nacional beschreibt Venezuelas sozialistischen Staatschef Nicolás Maduro in sarkastischen Worten. Auch sonst hält sich das Blatt in seinem Kommentar nicht zurück. Den Personen an der Regierungsspitze gehe es vor allem um ihr persönliches Wohlergehen. Umso trauriger sei es, dass viele Venezolaner immer noch überzeugt seien, dass diese Kreise tatsächlich ein soziales Projekt verfolgten, das Venezuela erneuern solle. Diese Vorstellung sei schlicht falsch.

Tausende von Venezolanern strömen nach Kolumbien, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Im Land sind die Regale leer Bild: Getty Images/AFP/L. Acosta

Entsprechend entschlossen zeigten sich die Gegner Maduros, die bereits am Donnerstag trotz Demonstrationsverbots auf die Straße gegangenen waren, um gegen die anstehende Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung zu protestieren. Bei den blutigen Zusammenstößen kamen mehrere Menschen ums Leben. Ebenfalls am Donnerstag sprach Parlamentspräsident Freddy Guevara, ein Mitglied der Protestbewegung, von einem Ultimatum an Maduro. Dieser müsse die Wahl absagen, sonst drohten weitere Proteste. 

"Kolonie des Imperialismus"

Das entschiedene Vorgehen der Demonstranten veranlasste die Regierung ihrerseits zu einem selbstbewussten Sprachstil. Die zu wählende Verfassungsgebende Versammlung sei "eines der demokratischsten Elemente auf der ganzen Welt", versichert etwa der Rechtsberater des Präsidenten, Elvis Amoroso, in der Zeitung Últimas Notícias. Die neue Versammlung ermögliche "jenen großen Dialog, den Frieden, die Harmonie und das Vergeben, nach dem sich alle Venezolaner sehnten."

Oppositionsführer Leopoldo López wurde am 8. Juli wegen seines schlechten Gesundheitszustandes aus der Haft entlassen.Bild: Getty Images/AFP/J. Hernandez

Sarkasmus gegen Pathos: Beide Lager, das der Anhänger wie das der Gegner Präsident Maduros, setzen auf starke Worte, um ihre Leute auf die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung am Sonntag vorzubereiten. Die Opposition will die Wahlen boykottieren, die Regierung hofft auf möglichst rege Teilnahme.

19,4 Millionen Venezolaner sind zur Stimmabgabe aufgerufen. Sie hätten Bedeutsames zu entscheiden, erklärte Präsident Maduro – nämlich über die Frage, ob sie in einem "freien Land oder in einer Kolonie des Imperialismus" leben wollten.

Zweifelhaftes Wahlsystem

Das Oppositionsbündnis Mesa de la Unidad Democratica (MUD) sieht das anders. Es sieht in der Wahl vor allem eins  - den Versuch Maduros, die eigene Position zu stärken. Das Bündnis weist darauf hin, dass Maduro die 545 Sitze des zu wählenden Gremiums zu allergrößten Teilen mit eigenen Anhängern oder solchen aus der Regierung nahe stehenden Gruppen - Gewerkschaftlern, Studenten, Rentnern - besetzen möchte.

Neigt sich sein Kampf dem Ende zu? Venezuelas Präsident Nicolas MaduroBild: Reuters

Zudem sollen sämtliche 364 Kommunalbezirke gleich stark gewertet werden. In den Augen der Opposition ist das nicht fair, da dünn besiedelte ländliche Regionen auf diese Weise gegenüber den viel dichter bevölkerten Großstädten deutlich überrepräsentiert würden. Denn Maduro rekrutiert seine Anhänger überwiegend aus ländlichen Regionen. Auf diese Weise erhielte ­er in der Wahl eine deutliche Mehrheit - obwohl inzwischen nur ein Drittel der Venezolaner ihn unterstützt.

Detlef Nolte: "Trugbild freier Wahlen"

Die Bedenken der Opposition seien begründet, sagt Detlef Nolte, Direktor des GIGA-Institut für Lateinamerika-Studien, gegenüber der DW. Die Wahlen erfüllten die demokratischen Ansprüche nicht. Ein Drittel der Kandidaten werde durch die Regierung ernannt, und auch bei den übrigen Vertretern habe die Opposition das Nachsehen. Die Wahlen am Sonntag seien ein "Trugbild freier Wahlen", so Nolte. "Es besteht das große Risiko, dass die Regierung auf eine Weise die Verfassung so reformiert, dass sie Wahlen nie wieder verliert."

Maduro bedeutet Hunger: Protestplakat in CaracasBild: picture-alliance/AP/A. Cuillos

Ähnlich sieht es auch Claudia Zilla von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Es ist umstritten, wann genau Venezuela aufgehört hat, eine Demokratie zu sein", schreibt Zilla, die an der SWP die Forschungsgruppe Amerika leitet. Sie verweist auf Maduros "zunehmend autoritäre Machtausübung, etwa den Abbau der Gewaltenteilung, oder die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit." Im Jahr 2016 etwa hätten die Behörden zwei Wahlprozesse - ein Referendum zur Abberufung des Präsidenten und die anstehenden Regionalwahlen - abgesagt. "Die ernsthafte Gefahr einer Niederlage dürfte die Regierung dazu bewogen haben, den letzten Anschein von Demokratie preiszugeben."

Maduro lässt Milizen bewaffnen

Die Opposition hat darum zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Ungeachtet des Demonstrationsverbots fordert sie ihre Anhänger zudem auf, ihren Protest auf die Straße zu tragen. Dies könnte die Gewalt aufs Neue und womöglich stärker denn je entfachen. Seit April sind bei den Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften rund 100 Menschen gestorben, darunter auch mehrere Polizisten.

Zugleich tut Maduro wenig, um die Lage zu deeskalieren. In einem Interview mit dem russischen Sender Russia Today bezichtigte er die USA, zusammen mit der Opposition auf seinen Umsturz hinzuarbeiten. Doch das Land sei entschlossen, sich zu wehren:  "Wenn Venezuela gespalten wird, wenn die sozialistische Revolution gezwungen ist, zu den Waffen zu greifen, werden wir über die Grenzen hinaus wieder unter gemeinsamer Flagge kämpfen." Maduro hat bereits 500 000 Milizen bewaffnen lassen.

Auf der Kippe zur Diktatur

Der Ausgang der Wahl könnte für die politische Zukunft des Landes entscheidend sein. Die Gewalt könnte sich noch weiter steigern, sogar von einem drohenden Bürgerkrieg ist die Rede. 

Noch allerdings hat das Land die Chance, das Schlimmste zu verhindern. "Venezuela hat stark diktatorische Züge, aber noch kann die Opposition ihre Ansichten zum Ausdruck bringen, auch wenn es Oppositionelle und Dissidenten gibt, die im Gefängnis sitzen", sagt Detlef Nolte vom Hamburger GIGA-Institut. Dennoch: "Venezuela steht auf der Kippe zur Diktatur."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika