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Verabredung mit der Geschichte

Marc Koch, Buenos Aires10. Juli 2014

Argentinien steht im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft. Zum ersten Mal nach 24 Jahren ist das Team wieder so weit gekommen. Die Fans zuhause schweben schon jetzt in Seligkeit - und hoffen auf den Titel.

Argentinien Fans Fußball WM 2014 Argentinien gegen Niederlande
Bild: picture-alliance/dpa

Der entscheidende Elfmeter von Maxi Rodríguez ist gerade hinter dem holländischen Torwart eingeschlagen, der Ball dreht sich noch im Netz, da brandet ein gigantischer Aufschrei der Erleichterung durch Buenos Aires. Innerhalb von Minuten füllen sich die Straßen, die zuvor zweieinhalb Stunden lang wie ausgestorben waren, mit hupenden Autos und singenden Menschen. In den Kneipen liegen sich Wildfremde in weißblauer Seligkeit in den Armen. Argentinien steht im Finale der Weltmeisterschaft. Und das wird fast schon wie der WM-Titel gefeiert.

Fußball total in weiß-himmelblau

Das Turnier im Nachbarland bestimmt den argentinischen Lebensrhythmus. An den Spieltagen der "Albiceleste", der Weiß-Himmelblauen, herrscht Ausnahmezustand: Ob Arztbesuch oder Ausländerbehörde - an einem längeren Gespräch über Fußball kommt niemand vorbei. Wer keine weißblauen Accessoires trägt, wird misstrauisch beäugt.

Fußball-Euphorie in Buenos AiresBild: picture-alliance/dpa

In der spielfreien Zeit werden alle möglichen Gegner, die eigenen Spieler, deren Umfeld und selbstverständlich alle anderen Begleitumstände tiefenanalysiert. Die entsprechenden Sondersendungen im Fernsehen dauern gerne acht oder zehn Stunden - oder auch länger, wenn Messis Gemütszustand, di Marías Oberschenkel oder die finstere Miene von Trainer Alejandro Sabella es erfordern. Tagesaktuelle Nachrichten werden in Drei-Minuten-Blöcke gepresst und zur Not auch nur im Splitscreen-Modus auf dem halben Bildschirm gezeigt.

Politik hat Pause

Dass Argentinien kurz vor der zweiten Staatspleite innerhalb weniger Jahre steht? Wird kurz berichtet, hat aber noch zwei Wochen Frist. Dass dem Vizepräsidenten Amado Boudou wegen Bestechung, Amtsmissbrauchs und illegaler Bereicherung der Prozess gemacht wird? Ein in der Geschichte des Landes einmaliger Skandal, sicher, aber jetzt ist Weltmeisterschaft. Politik hat gerade Pause in Argentinien. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.

Die einzige Ausnahme bildet das Staatsfernsehen: Canal 7 überträgt alle Spiele, live und exklusiv. Die enormen Kosten dafür laufen über das Produktionsprogramm "Futbol para todos", Fußball für alle, das die Regierung zahlt und gerne benutzt, um ihre Botschaften und ihre Sicht der Dinge in mehr oder weniger gut gemachten Werbeclips unter die Menschen zu bringen.

Wenn Argentinien spielt, pflegen die Moderatoren einen - sagen wir: - stark ausgeprägten Patriotismus. Neutrale Zuschauer fragen sich dann gelegentlich, ob sie das gleiche Spiel sehen wie die Kommentatoren.

Hauptsache gewonnen

Der Freude über die bisherigen Erfolge tut das keinen Abbruch. Genauso wenig wie die bisweilen fragwürdige Qualität, mit der die argentinische Mannschaft durch dieses Turnier holpert. Die Auftritte waren trotz einer leichten Gruppe und nicht wirklich furchterregender Gegner in der K.o.-Runde alles andere als überzeugend. Ohne Superstar Lionel Messi würde das Team möglicherweise nicht dort stehen, wo es jetzt ist - im Finale der Weltmeisterschaft.

1986: Der letzte WM-Sieg der Argentinier ist schon lange herBild: imago sportfotodienst

Die Fans denken da eher pragmatisch und ergebnisorientiert: Auf rauschhafte Fußballgalas verzichten sie gerne, solange die Mannschaft eine Runde weiterkommt. Zu groß ist die Sehnsucht nach dem Titel, dem ersten seit 28 Jahren, gewonnen damals bei der WM in Mexiko gegen - ausgerechnet: Deutschland. Seither lief es nicht mehr so rund im argentinischen Fußball. Das Finale 1990 haben sie gegen Deutschland verloren, danach hat es nie für mehr als das Viertelfinale gereicht.

Zum dritten Mal gegen Deutschland

Jetzt sind die Fans ihnen unendlich dankbar, dass sie so weit gekommen sind und nach dem Titel greifen. Sie feiern ihre Stars und freuen sich auf's nächste Match. Selbst der Spott über den gefallenen Erzrivalen Brasilien hält sich in Grenzen: Als eine brasilianische Sportzeitung dazu aufrief, im Finale Deutschland zu unterstützen, gab es eine kleine Stichelei über die 1:7-Pleite des Rekordweltmeisters. Das war's dann aber auch schon.

Jetzt also Deutschland. Der Respekt ist groß. Das Onlineportal der Tageszeitung "La Nación" erschien am Mittwoch mit gleich drei Kommentaren und Analysen der deutschen Mannschaft. Tenor: "Die arbeiten seit Jahren auf diesen Titel hin. Wer soll sie aufhalten?" Die Spieler der "Albiceleste" schalteten sofort nach dem Triumph über Holland in den Bescheidenheitsmodus. "Wir werden alles geben, wir werden 100 Prozent spielen, um am Sonntag zu gewinnen", sagt Trainer Alejandro Sabella. Und Messi schrieb auf Facebook: "Uns fehlt noch ein Schrittchen."

Nach dem Sieg gegen die Niederlande wollen die Fans jetzt auch den echten GoldpokalBild: Reuters

Feiern bis zum Finale

Stunden nach dem Sieg im Halbfinale ist die Avenida 9 de Julio, die breiteste Straße der Welt, im Zentrum von Buenos Aires, schwarz vor feiernden Menschen. Zu Hunderttausenden ziehen sie zum Obelisken, einem Wahrzeichen der Stadt. Über der Menge schwebt eine riesige, aufblasbare Puppe des "Cristo Redendor", der Christusfigur über Rio de Janeiro. Vor dem Morgengrauen geht hier keiner nach Hause.

Und das war nur das Halbfinale. Weltmeister wollen sie erst am Sonntag werden.

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