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Verbotene Erinnerungen der Schweizer

Nicole Scherschun19. Mai 2005

Der Titel erinnert an einen schlechten Horrorfilm. Doch Frédéric Gonseths "Mission des Grauens" dokumentiert einen wahren Albtraum, den 250 Schweizer im Zweiten Weltkrieg durchlebten - und geheim halten mussten.

Gerhard Weber: Die Zeit des Schweigens ist vorbeiBild: GMfilms

Es sind die Erlebnisse von Schweizer Ärzten und Krankenschwestern, die Gonseth in seinem Dokumentarfilm zeigt. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Regisseur und Produzent mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Er gründete 1999 den Verein Archimob, der die Zeugnisse über die Zeit des Zweiten Weltkriegs sammelt und archiviert. 555 Interviews haben die Mitarbeiter bislang geführt. Doch das, was einige in "Mission des Grauens" erzählen, ist eine neue Perspektive.

Getarnte Hilfe

Die Schweizer Regierung hatte sie 1940 angesprochen. Sie sollten unter der Fahne des Roten Kreuzes an der Ostfront und in Warschau helfen. Die Regierung appellierte an ihre Verbundenheit zum Vaterland und weckte bei einigen die Lust auf Abenteuer. "Ich habe viel russische Literatur gelesen. Das war für mich eine Gelegenheit, näher an Russland heran zu kommen", sagt die damalige Krankenschwester Elsi Trösch-Eichenberger.

Elsy Trösch-Eichenberger versuchte vergeblich die Wahrheit ans Licht zu bringenBild: GMfilms

Vier Missionen schickte die Schweizer Regierung mit diesen Argumenten zwischen 1941 und 1943 an die Front. Bei der Abreise in Bern wünschte man den Helfern eine "gute Reise und auf Wiedersehen". Doch aus der guten Reise wurde nichts.

Geblendete Missionare

Schon auf der Fahrt an die Ostfront sahen die schweizer Helfer Leichenberge an Straßenrändern, Züge, die voll gestopft waren mit ausgehungerten russischen Gefangenen und deutsche Soldaten, die fragten, ob die Schweizer zu ihrem Sieg kämen. Akribisch hielten alle Teilnehmer ihre Erlebnisse in Tagebüchern fest. Gewundert haben sie sich nicht.

Sie trugen das Rote Kreuz - sie waren "neutrale" Helfer. Keinem fiel auf, dass das Kreuz auf ihrer Uniform nur das Schweizer Kreuz war. Zudem wollten viele Missionsteilnehmer den deutschen Sieg - insbesondere über die Sowjetunion.

Sofort nach der Ankunft mussten die Ärzte und Krankenschwestern in die Lazarette. Tagelang amputierten die Ärzte, die Krankenschwestern reinigten, die von der langen Reise verletzten Soldaten und versorgten die vereiterten Wunden. "Wir hatten soviel zu tun, dass wir keine Frage danach stellten, warum wir hier waren", sagt Elsi Trösch-Eichenberger.

Die bittere Wahrheit

Dann kam der Befehl der Wehrmacht, nur den Deutschen zu helfen. Hilflos mussten sie den Misshandlungen der Wehrmacht an den russischen Soldaten zusehen. Mehr als 3000 Russen starben. Nur einige der Helfer widersetzen sich, halfen den Russen und zogen damit den Zorn der anderen Missionsteilnehmer auf sich. Sie wollten keine Unannehmlichkeiten.

Viele Erinnerungen lagerten jahrelang in Schubladen und KistenBild: GMfilms

Bis heute wollen einige der Teilnehmer die Wahrheit nicht eingestehen: Die Schweiz hatte ein Geheimabkommen mit der Reichsregierung. Demnach wurde das Personal des Roten Kreuzes unter das Kommando der Wehrmacht gestellt. Schwarz auf weiß stand es in den Personalausweisen.

Die Schweizer Regierung hatte die Ärzte und Krankenschwestern wie Ware an die Wehrmacht verkauft. Ein Weg, um Nazi-Deutschland vom Durchmarsch durch die Schweiz abzuhalten. Den Helfern hatten sie einen Maulkorb angelegt. "Uns wurde verordnet, nichts zu sehen, zu hören oder zu sagen", erzählt der Arzt Jean-Pierre de Reynier.

Zudem hatten weder Stalin noch Hitler die Genfer Kriegskonvention anerkannt, nach der das Rote Kreuz Hilfe leisten darf. Unter der Fahne des Roten Kreuzes hätten die Schweizer nie an die Ostfront und nach Warschau fahren dürfen.

Schwache Zeugen

1942 kamen die Teilnehmer der ersten Mission zurück. Trotz der Schweigepflicht veröffentlichen sie ihre grausamen Erlebnisse: die Verfolgung der Juden, die Verstöße gegen das Kriegsrecht an den russischen Gefangenen und ihr massenhaftes Sterben. Die Schweizer Regierung dementierte - bemüht die guten Beziehungen nach Deutschland nicht zu gefährden.

Die kritischen Stimmen der Rückkehrer - sie wurden damals im Keim von der Regierung erstickt. Mehr als 60 Jahre lang haben sie geschwiegen. Frédéric Gonseth erweckte sie in "Mission des Grauens" wieder zum Leben und damit auch einen Teil der Wahrheit über die Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg.

Späte Erkenntnis

Ungern setzt sich das sonst neutrale Land mit dieser Vergangenheit auseinander. Erst nachdem jüdische Organisationen den Schweizer Behörden skrupelloses Profitdenken vorgeworfen hatten, begann Mitte der 1990er-Jahre in der Schweiz die erste breite Diskussion über die wirtschaftlichen und politischen Verstrickungen des Landes mit dem NS-Regime.

Auch die Zeugen der "Mission des Grauens" brauchten einen Anstoß. "Wir hatten gesagt, wir würden schweigen", sagt der Arzt Frederic Rodel. Sogar Beschimpfungen nahmen sie dafür in Kauf. Man habe sie auch als Nazis bezeichnet nach der Mission, sagen die Ärzte Gerhard Weber und Louis Nicod.

Dabei waren die schweizer Helfer selbst Opfer - auch sie haben gelitten, Ängste ausgestanden. Noch heute erzählt Frederic Rodel unter Tränen von seiner Rückkehr in die Schweiz: "Wir hatten Menschen in der Finsternis zurück gelassen, und hierzulande beschwerte man sich, dass die Butter rationiert war."

"Mission des Grauens". Regie: Frédéric Gonseth. 95 Minuten. Ohne Altersbeschränkung. Deutsche Kinostart: 28. April 2005

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