Vor einem Jahr löste Großbritannien auch wirtschaftlich die Bande mit der EU. Premierminister Johnson propagierte den Weg zu einer eigenständigen Handelsnation ohne die Fesseln der EU. Stimmt das?
Anzeige
Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass auch Donald Trump die Folgen des Brexits spürt. Der frühere US-Präsident hatte den britischen EU-Austritt bejubelt und verteidigt. Nun leidet auch sein Luxus-Golfhotel Trump Turnberry in Schottland. Der Jahresbericht liest sich wie eine Zusammenfassung der Brexit-Sorgen: fehlende Arbeitskräfte wegen eines Mangels an EU-Beschäftigten, dafür höhere Kosten wegen gestiegener Zoll- und Transportgebühren.
Genau das sind die Probleme vieler Unternehmen, europäischer wie britischer, ein Jahr, nachdem Großbritannien am 1. Januar 2021 auch wirtschaftlich die Bande mit der EU gelöst hat. Teurer und aufwendiger: Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine Branche ihre Brexit-Sorgen publik macht. Zuvorderst merkt es der britische Arbeitsmarkt. Weit mehr als eine Million freie Stellen gibt es dort. Doch worüber Finanzminister Rishi Sunak jubelt, sorgt in Supermärkten, an Tankstellen und auf Bauernhöfen für Probleme. Weil billige Arbeitskräfte aus EU-Ländern wie Polen, Rumänien oder Litauen weg bleiben, da seit dem Brexit hohe Gebühren für Arbeitsvisa fällig werden, fehlen nun Lastwagenfahrer - Regale und zeitweise Zapfsäulen blieben leer, Nachschub fehlte. Schweinebauern mussten Tausende gesunde Tiere keulen, weil in den Schlachthöfen zu wenig Metzger arbeiten.
Johnson: Brexit-Folgen? Corona-Folgen!
200 000 EU-Bürger sind Schätzungen zufolge dauerhaft abgewandert. Um Lücken zu stopfen, erteilt die Regierung immer wieder neuen Berufsgruppen Ausnahmen für Arbeitsvisa. Das Wort Brexit aber scheint in der Downing Street auf dem Index zu stehen. Premierminister Boris Johnson und sein Kabinett streiten regelmäßig ab, dass der EU-Austritt für die Probleme verantwortlich ist. Vielmehr beharren sie darauf, dass Großbritannien wie viele andere Länder von den Pandemie-Folgen getroffen werde.
Anzeige
An einer Brexit-Aufarbeitung habe die Regierung kein Interesse, sagt Ulrich Hoppe, Chef der Deutsch-Britischen Handelskammer in London. Im Gegenteil: Stattdessen werde jede positive Nachricht als Resultat des Brexits und der Freiheit vom regulativen Rahmenwerk der EU verkauft. Dabei gäbe es einiges zu diskutieren. Der bilaterale Handel mit der EU ist längst eingebrochen. Die Denkfabrik Center for European Reform hat errechnet, dass der britische Warenhandel im Oktober 2021 um 15,7 Prozent oder 12,6 Milliarden Pfund (knapp 15 Mrd Euro) niedriger war als er im Falle eines britischen Verbleibs im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion gewesen wäre. Das wirkt sich auf die Wirtschaftskraft aus. Die Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR) kommt zu dem Schluss, der EU-Austritt werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um vier Prozent verringern.
Bürokratie als hohe Hürde
Heruntergebrochen bedeutet das laut AHK-Chef Hoppe, dass jeder Brite ein Jahr länger arbeiten muss. "Der Brexit ist ein verdammter Albtraum", schimpft ein Verantwortlicher einer wichtigen englischen Hafenstadt hinter vorgehaltener Hand. Noch immer sei unklar, wie die britische Regierung das Vereinigte Königreich im internationalen Wettbewerb positionieren will, kritisiert Außenhandelsexperte Marc Lehnfeld von der bundeseigenen Gesellschaft GTAI. Die EU bleibt der wichtigste Markt, der angepeilte Handelsvertrag mit den USA ist auch wegen politischer Streitigkeiten um Nordirland in weiter Ferne. So behilft sich die Regierung oft mit Gesten. So gilt die traditionelle Eichmarke Crown Stamp, von der EU verboten, wieder als Maß. Ebenso wird die ausschließliche Kennzeichnung von Lebensmitteln mit alten Gewichtseinheiten wie Pfund und Unzen gestattet.
Doch über die Grenze geblickt, erschwert Bürokratie weiterhin das Miteinander: "Überwiegend sehen Verbände und Unternehmen die EU-Nachfolger von EU REACH (UK REACH) und dem CE-Kennzeichen (UKCA) als große Doppelbelastung, bleibt doch die EU ein wichtiger Absatzmarkt", stellt Außenhandelsexperte Lehnfeld fest. Jüngst bejubelte Premierminister Johnson ein Freihandelsabkommen mit Australien, es ist der erste Deal, den London nach dem Brexit vollkommen neu ausgehandelt hat. Im Vergleich zu den Einbußen im EU-Handel gilt der Vertrag aber eher als Tropfen auf den heißen Stein. Und selbst die BBC kommentierte: "Das Vereinigte Königreich hat Australien beim Zugang zum britischen Agrarmarkt fast alles gegeben, was es wollte. Anderen großen Volkswirtschaften wird das nicht entgehen, und sie werden ähnlichen Zugang fordern."
Beschwerden kommen von britischen Farmern, die billige Fleischimporte fürchten. Es ist aber nicht alles düster. Lehnfeld und Hoppe betonen, dass Großbritannien ein wichtiger Markt bleibe. In einigen Bereichen agiert die britische Regierung pragmatisch, so dürfen nun doch Warenlieferanten visafrei einreisen und etwa Maschinen oder Küchen aus der EU installieren. Die günstigere Dividendenbesteuerung zieht Unternehmen an, jüngst entschied sich Shell für Großbritannien als Hauptquartier. Bei Offshore-Windkraft und grünem Wasserstoff bleibt Großbritannien das Maß der Dinge. Und auch wenn Großbritannien kurz davor steht, erstmals aus den Top Ten der deutschen Außenhandelspartner rauszufallen - beim Export steht das Königreich auf einem soliden fünften Platz. Experten fragen sich aber angesichts neuer Einfuhrkontrollen, die London zum 1. Januar angekündigt hat, wie lange das noch gelten wird.
Benzin in Großbritannien: Mangel in Massen
Autofahren? Klar! Aber tanken? Das ist aktuell etwas schwierig in Großbritannien. In großen Teilen des Landes haben bis zu 90 Prozent der Tankstellen keinen Treibstoff. Das führt zu dramatischen wie lustigen Szenen.
Bild: ADRIAN DENNIS/AFP
Entweder sehen die Tankstellen so aus....
Autofahrer in Großbritannien sind aktuell wirklich nicht zu beneiden. Denn wer dort gerade mit dem Auto unterwegs ist und tanken muss, der steht meist einer von zwei möglichen Situationen gegenüber. Die erste ist die auf diesem Bild zu sehende: Eine überfüllte Tankstelle, vor der Autos in langen Schlangen warten.
Bild: REBECCA NADEN/REUTERS
...oder so
Die zweite Situation ist diese hier: Eine komplett leere Tankstelle. Keine Autos. Keine lange Schlangen. Der Grund für beide Situationen ist derselbe: Benzinmangel. Der herrscht gerade in Großbritannien und führt dazu, dass die Tankstellen, die Sprit haben, von Autos geradezu überrannt - beziehungsweise überfahren - werden. Tankstellen hingegen, die keinen Sprit mehr haben, verwaisen.
Bild: DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP
Chaos und Panikkäufe
Die Tankstellen werden mehr und mehr zu Orten des Chaos, denn die Geduld vieler Autofahrer ist begrenzt. Zum Teil warten sie mehrere Stunden, bis sie an die Zapfsäule kommen. Wenn dann aber das Benzin ausgeht, kann man sich unschwer vorstellen, was los ist. Manch einer drängelt vor. Kein Wunder, dass es zum Teil zu lautstarken Auseinandersetzungen bis hin zu Prügeleien kommt.
Bild: Steve Parsons/AP/picture alliance
So nah und doch so fern
Die Schlangen vor den Tankstellen, wie hier in Ashford, sind manchmal über 100 Autos lang. Britische Medien zeigen Videos, die erschaudern lassen - etwa einen Autofahrer, der in der Warteschlange einen anderen mit dem Messer bedroht. Andere regen zum Schmunzeln an, zum Beispiel eine Frau, die vor der Zapfsäule ihre Wasserflasche ausleert - und diese mit Benzin füllt.
Bild: Gareth Fuller/AP/picture alliance
Das Wandern ist des Autofahrers Lust
Überhaupt wird alles benutzt, in das man Benzin einfüllen kann. Dieser Mann in Bracknell hat sich ein Sammelsurium von Kanistern zusammengestellt. Man fragt sich, wie er sich in die Autoschlange einreihen möchte. Vielleicht gar nicht? Man ahnt das Konfliktpotential. Tankstellen in Großbritannien sind aktuell keine Orte zum Entspannen.
Bild: Steve Parsons/AP/picture alliance
Zumindest einer scheint gut gelaunt
Auch wenn dieser Fahrer eines schneidigen Automobils an einer Tankstelle an der Autobahn M3 im Westen Londons gut gelaunt ist, die meisten anderen Autofahrer sind es nicht. Denn viele brauchen das Auto, um zur Arbeit zu kommen. Darum gibt es auch Diskussionen, ob nicht bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte bevorzugt tanken dürfen. Bei einigen Tankstellen wird das schon so gehandhabt.
Bild: ADRIAN DENNIS/AFP
Benzinobergrenze
Zum Teil sieht man auch, wie die Polizei mit ihren Dienstfahrzeugen vordrängelt, denn ohne Benzin lässt es sich nur schwerlich zu einem Einsatzort kommen. Manche Tankstellen rationieren den Sprit. Tanken darf man dort, wie an dieser Tankstelle in Manchester, nur für maximal 30 Pfund (rund 35 Euro). Kein Problem, wenn man einen Kleinwagen fährt. Großes Problem, wenn man einen Kleinbus fährt.
Bild: Jon Super/AP/picture alliance
Sorry, außer Betrieb
Nach Schätzungen des Branchenverbands PRA sind in einigen Landesteilen bis zu 90 Prozent der Zapfsäulen außer Betrieb. Und das obwohl laut dem britischen Verkehrsminister Grant Shapps ausreichend Kraftstoff in den 47 britischen Depots und den sechs Raffinerien zur Verfügung steht. Es kommt nicht zu den Tankstellen, weil Lastwagenfahrer fehlen. Darum betrifft der Treibstoffmangel...
Bild: Frank Augstein/AP/picture alliance
Das Gleiche in Grün
...auch alle Tankstellenketten gleichermaßen. Nach Angaben des Branchenverbands Road Haulage Association fehlen in Großbritannien rund 100.000 Lastwagenfahrer. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der Brexit ist ein gewichtiger. Viele LKW-Fahrer sind in dessen Folge wieder auf den europäischen Kontinent, oft nach Osteuropa, zurückgekehrt, und wegen Corona auch nicht mehr zurückgekommen.
Bild: DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP
Auch grüner Sprit kommt nicht an
Einige Speditionen aus Kontinentaleuropa fahren seit dem Brexit Großbritannien nicht mehr an. Gleichzeitig konnten wegen Corona viele LKW-Fahrprüfungen in Großbritannien nicht durchgeführt werden. Das Grundproblem ist also eine Kombination von Brexit und Corona und das nicht rechtzeitige Gegenlenken der Regierung. Aktueller Auslöser der Krise seien Panikkäufe der Autofahrer, so die Regierung.
Bild: PAUL ELLIS/AFP
Armee und Visa gegen Spritmangel
Die Regierung steuert nun kräftig dagegen. Die Armee wurde in Bereitschaft versetzt: Soldaten sollen Sprit zu den Tankstellen bringen. Prüfer der Armee sollen zusätzliche Fahrprüfungen anbieten. Gleichzeitig möchte die Regierung plötzlich 10.500 Arbeitsvisa vergeben, davon 5000 für Lastwagenfahrer und 5500 für die Geflügelverarbeitung - denn auch in anderen Bereichen herrscht Fachkräftemangel.
Bild: LINDSEY PARNABY/AFP
Keine Entschuldigung
Solche Schilder, auf denen man sich für die leeren Zapfsäulen entschuldigt, sollen damit bald der Vergangenheit angehören. Die neuen Arbeitsvisa sollen ab Oktober vergeben werden - gelten allerdings nur bis Heiligabend. Ob das genug Anziehungskraft versprüht, um die Versorgung im Bereich Kraftstoff und Lebensmittel sicherzustellen, muss sich erst noch zeigen.
Bild: Frank Augstein/AP/picture alliance
Besser als ein Lottogewinn - ein Tank voll!
Bis dahin freut sich manch ein Tankstellenkunde wie ein Schneekönig, wenn er es an eine volle Zapfsäule geschafft hat. Diese Dame im Westen Londons jedenfalls ist happy. Wie oft sie dieses Erfolgserlebnis noch haben wird, ist nicht klar. Denn Teile der Logistikbranche und der Nahrungsmittelindustrie begrüßten die Maßnahmen der Regierung zwar, sagten aber, sie reichten nicht aus.
Bild: ADRIAN DENNIS/AFP
Die Lösung
Sollte der Lastwagenfahrermangel und der damit verbundene Treibstoffmangel weiter anhalten, dann hilft wohl nur eins - ein Pferdegespann, wie hier auf dem Foto. Ach ja - und es mit Humor nehmen. Aber zumindest daran soll es ja dem Vernehmen nach den Briten nicht mangeln.