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Politik

Wie Russland neue Soldaten rekrutiert

Sergey Satanovskiy
29. Juni 2022

Moskau will im Krieg gegen die Ukraine die Lücken in der russischen Armee schließen. Noch wurde keine Generalmobilmachung ausgerufen, aber es gibt Zeichen dafür, dass Soldaten rekrutiert werden - auf verschiedenen Wegen.

Ukraine-Krieg - Ein russischer Soldat bewacht einen Bereich an der Alley of Glory, Taten der Helden
Ein russischer Soldat im ukrainischen Cherson: Russland braucht offenbar mehr SoldatenBild: AP/dpa/picture alliance

Entgegen verschiedener Prognosen hat Moskau auch nach fünf Monaten Krieg gegen die Ukraine bisher keine Generalmobilmachung ausgerufen. Im Kampf befinden sich Berufs- und Zeitsoldaten sowie Angehörige privater Sicherheits- und Militärunternehmen. Eingesetzt werden auch Männer, die von den selbsternannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" im Donbass rekrutiert wurden. Statt in einer allgemeinen Mobilmachung Rekruten einzuziehen, suchen die Einberufungsämter offenbar aktiver denn je nach Zeitsoldaten und nehmen wohl auch Wehrpflichtige ins Visier, heißt es aus verschiedenen Kreisen. 

Einberufung von Veteranen

Alexander, der seinen echten Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte, ist Veteran und lebt seit Jahren nicht mehr in Russland. In seinem Pass steht aber noch seine russische Meldeadresse, unter der seine Eltern weiterhin leben. Diese erhielten vor kurzem eine an ihren Sohn gerichtete Vorladung des örtlichen Einberufungsamtes.

"Seit mehr als 20 Jahren bin ich bei dem Amt gelistet - seit ich als Soldat beim Militär war. Ich bin Veteran und weiß nicht, womit das zusammenhängt. Vermutlich ist das eine verdeckte Mobilmachung", sagt Alexander. Er selbst verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine. Wenn er noch in Russland wäre, dann würde er nach einer solchen Vorladung versuchen, das Land schnellstens zu verlassen, sagt er.

Offenbar erhalten zunehmend Russen Vorladungen, die beim Militär waren und kampferfahren sind. Im russischen sozialen Netzwerk VK wird das Thema derzeit breit diskutiert - Betroffene tauschen Ratschläge aus, wie man am besten auf eine Vorladung reagieren sollte. "Mein Sohn ist am 14. Juni zum Amt gegangen. Sie haben sich seine Ausweise angeschaut und gefragt, ob er einen Vertrag wolle. Dann haben sie ihn gehen lassen", schreibt Anna im Netzwerk VK. Sie ist Mitglied einer Frauengruppe in Archangelsk.

Russische Soldaten im Einsatz in der Ukraine (hier: am Wasserkraftwerk Kachowka am Dnjepr)Bild: AP/dpa/picture alliance

Aktive Suche nach Zeitsoldaten

Der Menschenrechtler Alexander Gorbatschow berät Wehrpflichtige. Er beobachtet seit Kriegsbeginn - und besonders seit einem Monat - eine verstärkte Suche nach Zeitsoldaten. "Früher wurde nur Wehrpflichtigen und Männern, die freiwillig zum Amt kamen, ein Vertrag angeboten. Massenweise Anrufe und Vorladungen gab es nicht", sagt er.

Nun werde wohl verstärkt nach Wehrpflichtigen für Zeitverträge gesucht, so Oksana Paramonowa, Leiterin der Menschenrechtsorganisation "Soldatenmütter von St. Petersburg". Es würden dabei Methoden verwendet, die vorher eher unüblich gewesen seien, so Paramonowa.

Per Gesetz sind in Russland Männer zwischen 18 und 27 Jahren wehrpflichtig. Ausnahmen gibt es für diejenigen, die wegen ihres Gesundheitszustandes den Armeedienst nicht leisten können. Auch Studenten bekommen eine Rückstellung für die Zeit ihres Studiums. Die Rechte von Wehrpflichtigen seien vorher schon oft verletzt worden, aber dieses Jahr gebe es präzedenzlose Fälle, so Oksana Paramonowa. Als Beispiel nennt sie Einberufungen von Studenten im letzten Studienjahr ohne Rücksicht auf die Rückstellung, die sie noch haben. Menschen mit Gesundheitsproblemen, die regulär gar nicht in der Armee dienen dürften, seien auch einberufen worden, berichtet die Menschenrechtlerin und weist auf zahlreiche Beschwerden solcher Art bei der Hotline der "Soldatenmütter von St. Petersburg" hin. 

Außerdem wenden sich Paramonowa zufolge die Behörden inzwischen auch direkt an Unternehmen mit Listen von Beschäftigten, die vorgeladen werden. Das war in der Vergangenheit unüblich. Eine am Arbeitsplatz eingegangene Vorladung darf laut Gesetz nicht ignoriert werden. Doch die Einberufungsämter selbst würden niemanden zwingen, einen Zeitvertrag zu unterschreiben, bestätigt die Menschenrechtlerin. 

Eine Ausnahme bildet diesbezüglich die russische Teilrepublik Tschetschenien. Dort würden Männer mittels Entführung, Folter und Strafverfahren gezwungen, an die Front zu gehen, berichtete jüngst die russischsprachige Internetzeitung The Insider.

Die "Soldatenmütter" bestätigen, dass so etwas in anderen Regionen Russlands nicht üblich sei. "Es gibt Fälle, wo kein direkter psychischer Druck ausgeübt wird, sondern wo potenzielle Vertragsnehmer über Zahlungen, Leistungen und Arbeitsbedingungen getäuscht werden", so Paramonowa. Bei ihrer Hotline würden sich viele darüber beschweren, dass Vertragsbedingungen nicht eingehalten würden. Oft stelle sich aber heraus, dass die Zeitsoldaten ihre Verträge vor Unterzeichnung nicht gründlich gelesen hätten.

Beispiellose Vergütung

In vielen Fällen ist es gar nicht nötig, Menschen zu zwingen, in den Krieg zu ziehen. Vor mobilen Einberufungsstellen sind derzeit häufig Warteschlangen zu sehen. Wladimir Putin hatte Ende Mai die Altersgrenze für den Militärdienst abgeschafft. Jetzt können sich auch über 40-Jährige melden. Und viele tun es auch.

Ein wichtiger Anreiz ist dabei die Vergütung. Die Ämter haben auch zahlreiche Anzeigen geschaltet, um Soldaten zu rekrutieren. Wer einen Vertrag unterzeichnet, bekommt ein Gehalt von 200.000 Rubel im Monat - umgerechnet 3500 Euro. Das ist fünfmal mehr als das Durchschnittsgehalt eines Russen. Regulär habe der Sold in Friedenszeiten bei 25.000 Rubel gelegen, also rund 400 Euro, so Alexander Gorbatschow.

Aus den Anzeigen geht aber nicht hervor, ob es um den Einsatz im Kriegsgebiet geht. Es gibt nur indirekte Hinweise darauf. So heißt es beispielsweise am Ende einer Beschreibung: "Während der Durchführung der speziellen Militäroperation kann ein Vertrag für vier Monate oder länger abgeschlossen werden." Russland bezeichnet den Krieg gegen die Ukraine als "spezielle Militäroperation".

Generalmobilmachung riskant

"Eine verdeckte Mobilmachung im Sinne einer zwangsweisen Einberufung, um an Kampfhandlungen in der Ukraine teilzunehmen, gibt es nicht", sagt Oleg Ignatov, Senior Analyst bei der International Crisis Group. Westliche Medien und Militärs hatten erwartet, dass Wladimir Putin am 9. Mai eine Generalmobilmachung ankündigen würde. Dies ist nicht geschehen, sei aber in Zukunft nicht auszuschließen, meint Ignatov. Bisher habe man wohl aus politischen Gründen eine solche Entscheidung vermieden. Denn die passiven Befürworter des Krieges könnten dadurch schnell zu aktiven Kriegsgegnern werden, analysiert der Experte. Und die russische Führung fürchtet den Unmut in der Bevölkerung

Die Lücken in der russischen Infanterie beim Vormarsch auf dem Donbass, so der Experte, würde bisher durch Moskaus Überlegenheit bei der Artillerie ausgeglichen werden. Doch Russlands militärische Kräfte würden nicht für die Einnahme der Städte Dnipro, Odessa oder Kiew reichen. "Wir wissen nicht, wie weit Russland in der Ukraine gehen will. Russland rückt aber nicht von seinen Zielen und seiner Politik ab. Sollte es sich in die Ecke gedrängt sehen, könnte auch eine Generalmobilmachung ausgerufen werden", so Ignatov.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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